Welchen Gott meint ihr, wenn ihr betet?

Welchen Gott meint ihr, wenn ihr betet

PSALM

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unsern Staub.
Niemand.
Gelobt seist du, Niemand.
Dir zulieb wollen
wir blühn,
Dir
entgegen.

Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die
Niemandrose.

Mit
dem Griffel seelenhell,
dem Staubfaden himmelswüst,
der Krone rot
vom Purpurwort, das wir sangen
über, o über
dem Dorn.
Paul Celan, Die Niemandsrose

 

 

 

1. Wie sollt’ zu sprechen je möglich noch sein?

 

Mit einem Zitat zu beginnen, ist unter den Umständen dieses Themas nichts als der Ausdruck heilloser Angst. Wo die eigenen Worte nicht mehr gelten, wo sie nicht hinwollen oder versagen, wo es ihnen an Lautung und Sinn gebricht, da kommen manchmal fremde Worte als ein Geschenk daher. Und ich beginne ihnen zu lauschen, weil ich immer den Worten gelauscht habe, mehr als den Menschen vielleicht. Und ich bin schon lang mit diesen Worten umgegangen. Da beginnen sie sich dann vielleicht sogar aufzuschließen, diese Fremdworte, die meiner, die unserer Sprache angehören.

"Nach Auschwitz keine Gedichte mehr!" - "Nach Auschwitz keine Gebete mehr!" - "Nach Auschwitz keine Sprache mehr!" - "Nach Auschwitz kein Gott mehr!" - so viele Verdikte. Und alle haben ihre Wahrheit. Und dennoch haben sich Menschen nach Auschwitz der Sprache erbarmt, und die Sprache hat sich der Menschen erbarmt und ihnen Worte wiedergegeben, sogar Wörter, sogar Wörter aus dem Wörterbuch der Henker.

Nein, die Sprache ist nicht moralisch: Heil - dieses Unwort finden wir immer noch in Kirchensprache und Gebeten, und kaum wem, von denen, die es sagen, wird auch nur eine Ahnung noch sein von dem, was dieses Wort einst zu vertreten hatte: Die perverse Segnung des Ungeheuerlichen, die Transzendierung lebendigen Hoffens in tödliche Nacht, die Pervertierung von Transzendenz, die größte Gotteslästerung der Menschheitsgeschichte.

 

Und dann kommt jemand daher, wie der Dichter Paul Celan, und schreibt einen Psalm, einen Lob- oder Klagepsalm, nach allen Regeln biblischer Stilistik. "Klage - Anruf - Situationsbeschreibung - Zugehörigkeitserklärung - Rettung". Aber wie ?

Celan, der Jude mit deutscher Sprache aus Czernowitz, der jüdisch-deutschen Enklave in der Bukowina, der seine Eltern, seine Schwester im KZ verlor, der selber auf irreale Weise dem Tod entging und zeitlebens daran litt, dieser Paul Celan nimmt den Titel Psalm in Anspruch, die älteste Gebetsgattung auf die Juden wie Christe sich berufen mögen.

 

Das Gedicht greift aus bis an den Anfang der Schöpfung und weiß genau, daß diese nicht gereicht hat, daß neue Schöpfung notwendig wäre. Und eben dies ist die Klage: Niemand wird noch einmal schaffen, niemand wird den verhunzten und geschundenen Menschen neu schaffen, niemand wird die Toten neu schaffen, die waren und nicht mehr sind. Niemand wird ein Wort finden für deren Staub, für die Asche. Niemand. Staub wird Staub bleiben. Nicht mehr.

 

Überraschenderweise wird ein Lob ausgesprochen, und eben jenes Nicht-Subjekt, wird rein syntaktisch zum Ansprechpartner: Niemand. Fast könnte es an die List des Odysseus bei Polyphem erinnern, aber alles Spielerische fehlt, es bleibt nur der Ton des Gebetes. Und der wandelt sich zum Zynischen oder Mystischen, wenn es dann heißt:

Dir zulieb wollen / wir blühen

Blühen ist eine sonderlich nutzlose Angelegenheit, gleichwohl mag es der Höhepunkt des Lebens sein: Blühen - für niemanden oder für Niemanden ¼ und noch einmal die Anrede:

Dir

ein Dativ, ein Fall der Beziehung ¼ zu niemandem und zu nichts?

Das "entgegen" der letzten Zeile dieses Abschnitts bleibt doppeldeutig: Auf niemanden zu oder gegen den Niemand, den, der nicht schafft und nicht neu macht?

Ein Nichts / waren wir, sind wir, werden

Die Intonation des Leeren wird ausgeweitet auf alle Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nichts gibt es mehr, die Vergangenheit ist ausgelöscht, die Gegenwart ist nichts, und die Zukunft ist nichts als - blühendes Nichts.

Und damit ergibt sich die Beziehung endgültig: Dem schaffenden Niemand steht das blühende Nichts gegenüber: Ein Gebet? Klage? Nichts von alledem: Selbstbewußtsein, Nichtsbewußtsein artikuliert sich hier: Die Sprechenden haben etwas vorzuweisen, ihre eigene Nichtigkeit, die nicht einfach ist, die sich ausdehnt über alle Zeit. Mehr noch:

Sie haben etwas an sich, das sie auszeichnet und die Welt auszeichnet im Sinne des Kennzeichens: Mit

dem Griffel seelenhell

das scheint Biologie zu sein: Der Griffel in der Blüte: Aber auf dem sitzt die Narbe. Und die schaut in den Himmel. Der Griffel ist nur das Instrument der Notiz, die Materialisierung des Gedächtnisses, darum ist er seelenhell, trotz oder vielleicht auch wegen der Narbe, die das Mal der Erinnerung ist, als Wort sogar unvergänglich, unheilbar.

Dem Staubfaden himmelswüst

Wieder geht es darum, den Worten genau zuzuhören: Staub, der von jenem Niemand besprochen wird, ist das Signal, daß der Himmel von Niemandem bewohnt ist, oder von niemandem, also wüst ist, leer, wie die Welt zu Beginn ihres Daseins: Wir sind mit den Worten wieder angekommen am Anfang: Wir sind bei Niemandem angekommen außer bei der Krone, ganz oben, die rot ist, aber rot, weil sie über dem Dorn steht, der verletzt, der ja gerade die Notwendigkeit bedeutet für jenen Niemand, für niemand aber wohl, neu zu sprechen, neu zu schaffen, den Taten und den Worten neue Dimensionen zu geben: Nein, die Farbe des Blutes, jenes Rot, wandelt sich in die Farbe des Königs, in Purpurrot, weil dies Lied, weil die Worte das Leid überschreiten, weil sie, wie der Griffel, sich dem Gedenken nicht versagen mögen, weil geschah, was geschehen ist: Unter leerem Himmel steht der Mensch, ein Nichts, nur mit den Worten bekleidet, die dem Himmel entgegenblühn: Unsagbarer Widerstand - das Gedicht ist an seinem Ende.

Denn wer spricht, der redet nicht, der spricht, weil niemand ihn hört, niemand und
Niemand

So heißt es in einer etwa zur gleichen Zeit entstandenen Geschichte jenes Dichters. Und wer sollte auch sprechen; und mit wem?

 

In diesen, in fremden Worten sich aufzuhalten, in Worten zumal, die von einem Betroffenen kommen, das löst die eigene Sprache nicht unbedingt, aber es macht sie überhaupt wieder lautbar. Oft ist es doch, wenn es einem die Sprache verschlagen hat und die Worte, daß andere Worte sich hervorschieben und helfen weiter, bis, ja bis irgendwann vielleicht wieder ein Schein der eigenen Sprache aufleuchtet und geläutert sich meldet: Sprechen? Zu Gott? Mit Gott? Mit welchem Gott sollen wir sprechen?

 

 

2. Worte nach Auschwitz?

Wenn wir von jenem unsäglichen Geschehen sprechen, dem wir den Sammelnamen Auschwitz geben, dann tun wir allein damit schon ein Unrecht. Und gleichzeitig ist dieser Name ein Name wie die andern, Birkenau, das nebenan lag, Dachau, Treblinka, auch Theresienstadt, das Vorzeigeghetto - H.G. Adler berichtet davon, es ging nirgendwo menschlich zu, nur bisweilen kalkulierter im Blick auf die Weltöffentlichkeit - aber die wollte eh nichts wissen.

Und so haben wir uns auf den aus dem Biblischen über das Amerikanische zu uns gekommenen Begriff Holocaust (Brandopfer) verständigt. Damit sind wir gleich wieder bei Gott, beim Ritual, bei der Frage: War das ein Opfer, damals? Opfer kennen wir - zu unserer Entschuldigung - ja vielerlei: Wir haben uns angewöhnt, die von uns angerichteten Menschenschäden als Opfer zu verstehen, gleichgültig ob der Moloch Hunger oder Verkehr zugeschlagen hat und auch jene Menschen, die den nicht gehorchenden Naturkräften, Erdbeben, Sturm oder Wasser verfallen sind.

Holocaust aber, Brandopfer, jene zu nennen die von Deutschen umgebracht, verbrannt, fabrikmäßig getötet, gequält - schlicht jeglicher Form ihres Dasein beraubt wurden, ist ein neuer Zynismus: Als wollten wir einem Gott die Taten in die Schuhe schieben oder als wollten wir im Nachhinein die Täter zu Göttern erheben. Ich ziehe das jüdische Wort Schoah vor, weil es ein Wort aus dem Mund der Betroffenen ist und weil es ganz realistisch "Vernichtung" heißt.

Immerhin mag es Menschen, Betroffene, geben, die vielleicht dieses Wort "Holocaustum" bewußt in Anspruch nehmen, weil sie in ihm auf eine Deutung des Erlittenen hoffen. Niemand kann das Recht haben, eine dem Schmerz und Leid abgewonnene solche Deutung zu bezweifeln, wenn sie für die Betroffenen gültig ist. Aber wir Nachgeborenen im Lande der Täter haben kein Recht an diesem Wort.

Immer noch kursiert auch noch das Wort "Endlösung", konstruiert auf der Wannsee-Konferenz. Gebrauchen wir heute dieses Wort, werden wir selbst zu Tätern; denn es ist die Sprache der Täter, in der jenes Wort entstand: Es gäbe den Tätern noch im Nachhinein recht, würden wir es gebrauchen und damit in Kraft setzen.

Aber vieles gibt den Tätern recht, und weniges den Gemordeten und Gequälten: 50 Jahre nach dem Krieg geht in Deutschland die Seuche des Vergessens um. Endlich Schluß machen mit dem Gerede von Auschwitz, endlich Schluß machen mit dem Reden von Schuld. Wir, die heute leben, stehen in der "Gnade der späten Geburt", wir haben keine persönliche Schuld daran, daß die Generation unserer Großväter und Väter gemordet und Mordfabriken gebaut hat.

Wer so redet, und wer auch immer es sei, der so redet, der wird schuldig; wer so redet, tut den Gemordeten den dritten Tod an, den endgültigen, den Tod des Vergessens. Aus allen Aufzeichnungen, die aus den Vernichtungslagern existieren, aus den Ghettos, aus den Zentren jüdischen Lebens, ist immer wieder zu vernehmen: Wenigstens soll es nicht vergessen werden. Und wer weiß, was Zachor im Jüdischen bedeutet, ahnt vielleicht etwas von der vergegenwärtigenden Kraft des Gedenkens. Der immer wieder aufkeimende Ruf nach Gedächtnislosigkeit in Deutschland ist verständlich: Wer will schon immer wieder konfrontiert werden mit seiner entsetzlichen Geschichte. Aber darum geht es hier nicht: Menschen wurden getötet, auf eine Weise und nach einer industriellen Norm, die erstmalig in der Menschheitsgeschichte ist. Menschen wurden verbrannt, damit ihr Andenken und die letzten Reste von ihnen verwehen sollten. Wenn wir heute dem Vergessen die Herrschaft geben, dann tun wir, was unsere Väter- und Großväter-Generation begonnen hat: Wir vernichten endgültig.

Und irgendwann werden vielleicht unwidersprochen Menschen behaupten: All das gab es nicht. Erfindung, Lüge: Die Sprache hat keine Moral. Sie spiegelt nur, was die Menschen tun; und wenn wir uns anstrengen, spiegelt sie in die Menschen zurück, was sie weiß. Denn die Sprache hat ein längeres Gedächtnis.

Also bleiben wir beim Wort "Opfer", bleiben wir beim Wort "Holocaust": Welcher Gott hat ein solches Opfer verlangt? Wäre ein solcher Gott nicht ein Unhold, auf ewig dazu verdammt, aus dem Gedächtnis aller Lebendigen gestrichen zu sein? Eben auf dieser Ebene laufen viele Diskussionen um die Gottesfrage nach "Auschwitz": Gäbe es einen Gott, hätte er Auschwitz nicht zugelassen; und da es Auschwitz gab, gibt es keinen Gott. Es ist ein negativer Gottesbeweis mit tödlicher Schlüssigkeit.

Und hätte es Menschen gegeben, Menschen mit Sprache, so hätte es die Schoah niemals geben dürfen. Es ist ein tödlicher Beweis gegen die Existenz des Menschen. Und tatsächlich, schauen wir in die gegenwärtige Weltgeschichte, könnten wir glauben, es gebe vor allem Ungeheuer in Menschengestalt - uns selbst eingeschlossen. Denn wir richten uns und die Welt zugrunde, in jeder nur möglichen Weise.

Kiddusch ha schem - zur Heiligung seines Namens, l’chaim haben manche gerufen, die in den Tod gingen und davon wußten. Sch’ma Jisrael, haben viele gesungen. "Höre Israel, Dein Gott ist ein einziger, und er ist ewig." Und wir sollten nur sagen: Das war nichts!? Da war kein Gott. Die haben sich geirrt, die gebetet haben in Leid und Schmerz?

Keine Theodizee! Der Name Gottes ist ein heiliger Name. Das sollten wir vielleicht lernen von den Juden. Was wir auch lernen sollten - im Namen Jesu - ist, mit diesem Gott zu rechten und zu hadern, selbst wenn wir uns ins Unrecht setzen.

Jede Form des Leidens bleibt unverständlich. Leid als Strafe zu verstehen, als Ausgleich, als "Lohn der Sünde" geht nicht an. Damit erst recht kämen wir jenem Gott in die Quere. Manchmal sind Täter auszumachen. Dann kann man versuchen ihnen das Handwerk zu legen. Die Täter zu verstehen, das ist wohl allen Ernstes nicht zu verlangen. Sollen sich die Täter selbst verstehen. Anders, wenn jemand selbst zum Objekt, zum Erniedrigten und Gequälten geworden ist und die Mentalität der Täter verinnerlicht hat, weil er sie für siegreich und qualifiziert hält. Manchmal werden die Gequälten und Erniedrigten, kaum daß sie Macht haben, selbst zu Tätern. Dann heißt es den Teufelskreis zu zerbrechen, der aus Leiden immer neue Leiden wachsen läßt.

Wozu aber das Leid in der Welt sei, das ist wohl immer eine Frage. Und es wird immer eine Frage bleiben. Wenn es ein Geheimnis gibt auf der Welt, so ist es dies: Daß es Leid gibt. Aber es ist das Geheimnis der Destruktion, ein tödliches Geheimnis. Das Wort "Geheimnis" ist desavouiert, das Leiden ein "Geheimnis" zu nennen, geht offensichtlich nicht an, denn aus dem Geheimnis haben wir immer auch Zukunft erwartet. Heute aber ist das Wort "Geheimnis" ein Vergangenheitswort.

Oder ist es so, daß wir hier vor Geheimnis unseres Menschseins stehen? Werden wir denn je wissen können, wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen. Werden wir zu uns finden, oder werden Leid und Tod uns treffen, vorher, immer zu früh? Unsere Endlichkeit bricht stets ein in unser Dasein. Das macht Leiden. Als einzelner Mensch begreife ich das vielleicht, kann es für mich als Betroffenen akzeptieren, es vielleicht sogar als Chance zu leben entdecken lernen. Eine Erklärung für anderes Leid aber ist das nicht. Diese Sätze sind vielleicht zu akademische Sätze. Und akademische Sätze helfen nicht. Doch helfende Sätze sind allzu oft nicht möglich. Und vor dem beispiellosen Leiden der in Vernichtungslager Umgekommenen und Gequälten, versagen sie allemal.

Würde je wer behaupten, die Schoah verstanden zu haben, so müßte er den Menschen neu schaffen oder die Welt vernichten müssen. Denn eine Menschheit, in der die Schoah denkbar und verstehbar ist, führt sich selbst ad absurdum. Und eine Welt, in der es einen rechtmäßig einzuordnenden Ort für die Leiden der Schoah gibt, gehört abgeschafft. Aber es wird wohl Frage bleiben, warum die Täter Täter wurden, warum die Leidenden gelitten haben. Sinn ist dem nicht abzugewinnen.Nie eine Antwort. Es bleibt nur die Frage.

 

 

3. Hiob oder Das Verstummen

Die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Leidens in der Welt ist eine spekulative und intellektualisierte Frage. In ihrer Tendenz ist sie allerdings sehr menschlich. Sobald man jedoch die Frage nach Gottes Anteil am Leid der Welt zu stellen beginnt, müßte man sich seines Menschseins begeben, um zu einer Antwort zu finden, die jedenfalls immer anders ausfallen wird, als Menschendenken läuft. Es geht überhaupt nicht um einen notwendigen Freispruch Gottes, es geht auch nicht darum, Gott grundsätzlich vor dem Hintergrund des Leidens und der Schoah erst recht in Frage zu stellen. Auschwitz ist kein negativer Gottesbeweis; Treblinka ist durch keinen Gott zu rechtfertigen.

 

Es wäre allerdings ebenso verquer, zu behaupten, Auschwitz und Treblinka und all die andern Lager seien eine Notwendigkeit, resultierend aus dem menschlichen Wesen, gewesen. Menschentaten, soweit sie nachweisbar sind, sind zwar vielleicht nicht verstehbar oder überschreiten, wie bei der Schoah sogar die Grenzen der Sprache, aber sie sind zumindest als Schuldtaten benennbar. Und Menschen können versuchen, sie zu verhindern.

Den Geschundenen und Toten allerdings nutzt das nichts mehr. Im Vorfeld wäre es wichtig gewesen zu handeln, zu widerstehen, im Nachhinein ist nur Gedenken möglich, ein Gedenken vielleicht, das eine Hoffnung trägt, die Hoffnung nämlich, daß Vergangenheit nicht einfach abgeschlossen, daß sie offen ist, offen vielleicht für das Handeln eines anderen, eines Niemand oder ganz anderen.

Und dann gab es da noch jenen Hiob, der von einem Schrecken in den nächsten, von einem Leiden ins nächste fiel und anfing, mit Gott zu hadern. Hiob hatte viele Wissenschaftler und Theologen zu Freunden, die ihm sein Leid erklärten und benannten, wie es zu allem gekommen hätte sein können, daß er in sich gehen und Buße tun solle. Bis Hiob irgendwann am Ende war und anfing zu schreien und zu klagen und Gott anzuklagen, daß er zu unrecht das Leid auf ihn lege.

Und wie man lesen kann, hörte Gott damals noch auf die Menschen und gab unmittelbare Antwort. "Wo warst du denn als ich den Himmel und die Erde machte?"

Uns scheint diese Antwort manchmal eigenartig schwach, und Theologen haben gemeint, in dieser Antwort "Wo warst Du denn ¼ " ein Defizit in der Theologie des Hiob ablesen zu können. Dabei gibt uns das Hiob-Buch zwei wichte Hinweise - keine Antworten - :

  • Ein Mensch kann Gott und das Leiden nicht zusammen denken. Menschliches Denken kommt hier an einer Grenze, über die es ein Hinaus nicht mehr geben kann. Wohl kann die Transzendenz immanent werden. Aber der Mensch vermag - eine Tautologie - Transzendenz nicht zu begreifen außer als Daß.
  • Jede Erklärung des Leidens ist ein strafwürdiges Vergehen. Nur die Fürbitte des Leidenden schützt die aufgeklärten Erklärer vor dem Untergang. Die Erklärung ist aber nicht bloß wegen ihrer notorischen Fehlerhaftigkeit ein Vergehen, sondern weil sie Solidarität gar nicht erst aufkommen läßt.

Leid, so sagt uns das Hiobbuch, ist nicht zu verstehen, sondern zu bestehen - gemeinsam. Das Erstaunliche daran ist, daß im Hiob-Buch nicht das Hadern mit Gott, die Anklage gegen ihn als Verbrechen benannt wird. Zum Verbrechen wird die Tat oder Un-Tat gegen den andern Menschen.

Wehe jenen Menschen allerdings, die Leid schaffen, gleich ob mit Worten oder mit Taten. Wer Leid zu erklären versucht, verdoppelt es, weil er dem Geschädigten, Betroffenen und Gequälten die Mitschuld zuweist, weil er aus dem Leiden Sinn zu destillieren versucht und dem Leidenden diesen Sinn von außen zufügt. Das ist der Zorn Gottes gegen die Erklärer, daß den Leidenden so auch noch die Identität genommen wird.

Und wenn es heute Historiker gibt, die das Leid der Schoah einordnen wollen in die Geschichte als eins der Ereignisse, die nun so einmal waren, die Auschwitz gleich neben den Gulag legen, dann liegt eben dieses Verdikt der Hiob-Buches auch über ihnen. Leid läßt sich nicht durch Leid wegrationalisieren, eigene Schuld läßt sich nicht durch andere Schuld begleichen. Mathematik versagt vor dem Leiden.

Der erste Punkt aber, daß der Mensch Gott und das Leid nicht zusammen denken könne, erweist sich im Umfeld der Schoah auch noch von anderer, viel weiterreichender Bedeutung:

Die Vernichtngslager sind zumindest verbal im Namen irgendeiner Vorsehung gebaut worden. Inzwischen ist durch Dokumentenfunde belegt, daß Hitler selbst die Anordnung zur Vernichtung des jüdischen Volkes gegeben hat, jener Hitler, der sich in seinen Reden immer wieder als Auserwählter der Vorsehung bezeichnete. Da stellt sich die Frage, welcherart denn jene Vorsehung war und woher die Täter wußten, daß sie in ihrem Auftrag handeln. Offensichtlich wurde hier ein Name Gottes mißbraucht, um Tod zu schaffen. Das ist jene Pervertierung der Transzendenz, von der oben die Rede war. Wo immer sich selbsternannte Interpreten, ausgestattet mit Machtmitteln, zur Stimme des Göttlichen machen, entsteht Leid. Denn die jüdisch-christliche Religion erzählt und berichtet in all ihren Dokumenten, daß Gottes Stimme nur aus den Ohnmächtigen gesprochen habe und oft genug (etwa in den Propheten) auf eine Weise, die den Stimmen nicht gefallen hat, vor der sie auf die Flucht gegangen sind, der sie lieber ausgewichen wären. Wo imer jemand im Besitz von Macht behauptet im Namen Gottes zu sprechen, kann es nicht der Gott der Bibel sein, den er meint, muß es ein von Menschenhand gebastelter Götze sein. Und dieser Götze ist nichts anderes als der Versuch einer Legitimierung des eigenen Handelns, ist ein Versuch, hinter dem Götzen selbst die Stelle Gottes einnehmen zu wollen. Die Schoah zeigt aufs Erschreckendste wie ein solcher Versuch ausgeht: Wo ein Mensch sich an die Stelle Gottes setzt, wird er zum Unmensch: Gott kann er nicht werden, sein Menschsein hat er verloren. Und so fallen auch seine Taten gottlos und unmenschlich aus.

Wenn Gott aber nach dem Bekenntnis der Schrift aus den Ohnmächtigen spricht, sollte er da nicht in den Vernichtungslagern gewesen sein?

Eine solche Aussage ist von außen nicht zu machen; sie wäre - schon wieder - eine Fremdzuweisung, ein Versuch Gott von außen seinen Ort zuzuweisen. Wenn aber die Menschen, die der Vernichtung täglich ins Auge sahen, wenn diese Menschen Gott für sich haben wahrnehmen können, dann mag es so gewesen sein. Niemand hat von außen die Möglichkeit oder gar das Recht, hier zu bestreiten. Aber es ist auch kein Trost für irgendeinen andern Menschen.


    Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zur gleichen Zeit in die Schlinge eingeführt.

    "Es lebe die Freiheit!" riefen die beiden Erwachsenen.

    Das Kind schwieg.

    "Wo ist Gott, wo ist er? Fragte jemand hinter mir

    Absolutes Schweigen herrschte im ganzen Lager ¼ Dann begann der Vorbeimarsch. ¼ Aber der dritte Strick hing nicht reglos. Der leichte Knabe lebte noch. Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unsern Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf.

    Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen:

    "Wo ist Gott?"

    Und ich hörte eine Stimme in mir antworten:

    "Wo er ist? Dort - dort hängt er, am Galgen."

Eli Wiesel, Die Nacht zu begraben, Elischa 94

 

Für uns heute entscheidend ist die Frage, ob wir die Schoah als Anfrage an unser eigenes Gottesbild verstehen, nicht weil dies der Sinn der Schoah wäre, sondern weil diese Frage vielleicht mit dazu helfen kann, daß solcher Schrecken nicht noch einmal Menschen angetan wird. Die Anfrage an uns lautet: Haben wir einen Gott, den wir bei Bedarf zitieren können, der uns zu Diensten ist, wenn wir wollen, auf den wir uns bei Gelegenheit auch berufen? Haben wir also einen recht brauchbaren Gott, der uns hie und da von Nutzen ist?

Oder haben wir einen Gott, der sich nicht gebrauchen läßt, der eher abwesend ist, als daß wir ihn merkten, der in seiner Abwesenheit und in seinem Schweigen - wenn überhaupt - zu uns spricht?

Haben wir einen Gott, der sich gegen allerlei Sprüche, ein paar Kerzen und Messen, vielleicht das ein oder andere "Opfer" zu Dienstleistungen für uns bewegen läßt?

Oder haben wir einen Gott, dessen Unverfügbarkeit allenfalls mit der Unverfügbarkeit unseres eigenen Lebens korrespondiert?

So könnten einige Fragen lauten, die sich uns angesichts der Schoah und der Pervertierung des Gottesnamens im Nationalsozialismus stellen.

Welchen Gott meinen wir, wenn wir beten? Und was heißt das denn heute, nach den Todeslagern und der Ermordung von Millionen von Menschen, nach der Institutionalisierung industriellen Tötens, nach Sprach- und Menschenmißbrauch ungeheuerlichen Ausmaßes, was heißt denn heute beten?

 

 

 

4. Was zwischen Mensch und Mensch geschieht,

     geschieht auch zwischen Mensch und Gott.

 

Nichts anderes als die Übersetzung der jüdisch-christlichen Gottes- und Menschenliebe-Gebote spiegelt sich in diesem Satz: Was zwischen Mensch und Mensch geschieht, geschieht auch zwischen Mensch und Gott. Wenn die Botschaft Jesu lautet, daß Menschen- und Gottesliebe identisch sei, dann läßt sich auch sagen, daß Menschenhaß und Gotteshaß das gleiche ist.

Unter diesem Aspekt bekommen die Morde von Auschwitz und Treblinka, von Maidanek und vom Bug eine Dimension, die sich nur als eine Infektion des Gottesbildes umschreiben läßt. Wo der Mensch nichts wert ist, ist Gott nichts wert. Und wo Gott entwertet wurde, wie kann man da noch beten?

Bleibt denn, angesichts der Entwertung des Menschen und Gottes uns noch anderes, als vom "Niemand" zu sprechen?

Gewinnt hier das Gedicht Celans nicht eine weitere Dimension? Korrespondiert nicht unter dem Vorzeichen der Schoah die Nichtigkeit des Menschen mit der Nichtigkeit Gottes?

Es ist kein Leugnen Gottes in solchen Fragen; es ist vielmehr die Besorgnis um eine Gottesfinsternis gesamtmenschlichen Ausmaßes. Und was heißt vor diesem Hintergrund heute "Gottsprechen", also Verkündigung, Bekenntnis, Gebet?

Wäre nicht die Wiederkunft all der Gemordeten aus dem Tod die einzig mögliche Rettung für Gott und die Welt?

 

5. Beten nach der Schoah - was heißt das?

Verantwortetes Sprechen, gleich welcher Art, steht auch heute, 50 Jahre nach dem Ende der Vernichtung von Millionen von Menschen, unter dem Anspruch des Gedenkens. Kein Mensch wird durch Gedenken vergangene Untaten ausradieren, aber hoffentlich hilft das Gedenken, solche Untaten für die Zukunft zu verhindern.

Christliches Beten aber vertieft diese Verantwortung noch: Es waren ja zumeist Christen, die jene Untaten an ihren älteren Geschwistern, den Juden, begangen haben, und allzu wenig Christen haben auf der anderen Seite als Retter oder Verfolgte gestanden.

Das Gedenken setzt Gegenwart, immer wieder neu. Und es nimmt die, derer gedacht wird, mit in die Zukunft. Gedenken bindet die Vergangenheit an die Zukunft und wehrt sich dagegen, daß die Täter noch im Nachhinein über die Ermordeten und Geschundenen triumphieren.

Als Christen sollten wir gelernt haben, welche Bedeutung die memoria passionis, das Gedenken des Leidens hat. Nun ist aber das Bild des leidenden Menschensohns am Kreuz übermalt vom Leiden der geschundenen Menschenkinder in den Lagern. Und wenn wir dieses Jesus am Kreuz gedenken, kommen wir nicht umhin, auch jener anderen zu gedenken, der Juden, die schuldlos und sinnlos gemordet wurden.

Sie aber, die Ermordeten sprechen im Gebet wohl eine andere Sprache:

 

TENEBRAE

Nah sind wir, Herr,
nahe und greifbar.

Gegriffen schon, Herr,
ineinander verkrallt, als wär
der Leib eines jeden von uns
dein Leib, Herr.

Bete, Herr,
bete zu uns,
wir sind nah.

Windschief gingen wir hin,
gingen wir hin, uns zu bücken
nach Mulde und Maar.

Zur Tränke gingen wir, Herr.

Es war Blut, es war,
was du vergossen , Herr.

Es glänzte.

Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr.
Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr.
Wir haben getrunken, Herr.
Das Blut und das Bild das im Blut war, Herr.

Bete, Herr.
Wir sind nah.

Paul Celan, Sprachgitter

 

Das ist Karfreitag. Die Sprechenden haben sich dem Toten am Kreuz nicht nur angeähnelt. Ihre Geschichte hat sie im wahrsten Wortsinn ihm gleich gemacht. Was manchen wie Blasphemie, wie Gotteslästerung in den Ohren klingt, die Verkehrung psalmischen Sprechens, ist tatsächlich Blasphemie. Aber nicht die Worte sind gotteslästerlich, sondern die Realität, in der solches geschah. Und das können wir als Betende heute nicht mehr wegwischen.

Ob wir wollen oder nicht, wir müssen, wenn wir beten, all dieser Toten gedenken. Wir müssen es tun, wenn es uns je gelingen sollte, aufrichtig von Ostern zu sprechen.

 

Ostern ist kein Grund des Jubels für uns. Vielleicht sollten wir Ostern schweigen. Wenn wir aber sprechen, in der zerkauten Sprache der Täter gar, dann müssen wir es tun im Glauben, daß dieses Ostern zuerst jenen gilt, die dem Toten am Kreuz auf erschreckende Weise gleich geworden sind. Und nur wenn es jenen gilt, dürfen auch wir, die andern, auf Rettung hoffen.

Das Schweigen steht uns aber auch deswegen an, weil unser Gott ein schweigsamer Gott ist. Solange wir mit unsern Worten etwas von ihm wollen, versuchen wir, ihn uns dienstbar zu machen. Vielleicht können wir ihn heute nur so wahrnehmen, daß wir das Schweigen Gottes in unserm Schweigen als Schweigen Gottes hören. Ob es auch eine Auferstehung der Worte geben wird - vielleicht, wenn wir die Stille des Karsamstags überstehen ¼

Ein Wort Walter Benjamins lautet: Wir haben die Hoffnung um der Hoffnungslosen willen. Das dürfte auch für Ostern gelten. Aber wie Ostern ohne Karfreitag nicht sein kann, so kann auch Hoffnung nicht sein ohne das Gedenken.

Beten heute: Das kann wohl nur eine Suchbewegung sein nach dem, was verloren ist und sich nicht wieder einstellen will, nach denen die verloren sind und untergegangen von Menschenhand in der Geschichte.