Um der Hoffnungslosen willen

„Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben“

                                                                                                     Walter Benjamin

Nachdenken über den Grund unserer Hoffnung und die Frage, welche Bedeutung Hoffnung heute hat

Ein Versuch

Walter Benjamin Über den Begriff der Geschichte These IX

Mein Flügel ist zum Schwung bereit
ich kehrte gern zurück
denn blieb ich auch lebendige Zeit
ich hätte wenig Glück
Gerhard Scholem, Gruß vom Angelus

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er  eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

Vorbemerkung

Wir leben in einer Zeit, die zwischen Optimismus und Depression schwankt, die sich nicht entscheiden kann, ob Fortschritt ein Zukunftswort oder ein Wort der Verderbnis ist. Die sogenannte Finanzkrise, die ja keine Krise der Finanzen war sondern eine Krise im amerikanischen Hypotheken-System, die daraus folgende Wirtschaftskrise, Fukushima, die sogenannte Energiewende, bei der ja auch wenig gewendet ist, all das lässt uns schwanken, was denn Zukunft bedeutet und wie sie sein möchte. Und gleichzeitig gibt es in Teilen der Bevölkerung einen ungebrochenen Zukunftsoptimismus: „Wir stehen doch gut da.“, sagen wir und haben noch nicht begriffen, dass unser noch vorhandenes Wirtschaftswachstum sich aus den Schulden unserer Partnerländer speist, zum Teil aus Ausbeutung von Menschen und Bodenschätzen anderswo auf der Welt und ebenfalls ein sehr schnelles Ende finden kann.

Gleichzeitig gibt es seit den Warnungen des Club of Rome immer wieder Hinweise, dass die ökologische Belastbarkeit unseres Planeten doch sehr begrenzt ist, dass Klimaschwankungen längst nicht mehr nur kosmisch bedingt, sondern offensichtlich auch menschengemacht sind. Allfällige Gegengutachten gehören wohl zur Symptomatik.

Schließlich driften die Gesellschaften in Europa auseinander, auch in Deutschland weitet sich die Schere zwischen Arm und Reich. Und seitens der Politik scheint es hier wenig Interesse zu geben, gegen zu lenken. Im Gegenteil scheint es, als würden Banken und Großaktionäre unterstützt und die Normalverdiener müssten anschließend die Zeche zahlen über ihre Steuern.

Von Europa insgesamt sei hier gar nicht erst die Rede, es führte ins Unendliche und würde die Katastrophenstimmung nur vermehren. Und je mehr der Blick sich weitet auf die Welt, umso mehr Katastrophisches mag in den Blick kommen…

Gleichzeitig behaupten Meinungsforschungsinstitute, dass der Konsum in Deutschland steige, dass die Unternehmen durchaus optimistisch in die Zukunft schauen, dass die Menschen in Teilen unseres Landes sehr glücklich seien und so weiter.

Ein disparates Bild im Blick auf das Zukunftsdenken zeichnet sich ab, und wie die Stimmung, denn um eine solche handelt es sich bei den beschriebenen Momenten, oder wie die Wirtschaft sich weiter entwickelt, steht wohl eher in den Sternen als in irgendwelchen Büchern. Nachgewiesenermaßen wissen die Sterne dazu aber auch nur Unsinn zu sagen.

Wenn an dieser Stelle das Wort „Hoffnung“ ins Spiel kommt, so dürfte es zunächst eher altbacken wirken, überholt und keinerlei Effizienzdenken verpflichtet. Und tatsächlich ist Hoffnung kein Wort, das sich auf Wirtschaftskrise und Welthandelsabkommen, auf Fortschritt und wirtschaftlich-technologische Entwicklung direkt anwenden ließe.

Zwar gibt es inzwischen Unternehmensberatungen, die das Wort für sich entdeckt haben und es im Sinne eines Verhaltenstrainings vermitteln wollen: Positives Denken, halbvolle statt halbleere Gläser sind dann das Stichwort und all diese Rezepte haben ja etwas für sich: Sie tragen dazu bei, Alltagsstress vielleicht, aber auch nur vielleicht, besser bewältigen zu können. Gedankenblitze sind sie nicht und zur Weltsicht aus einer Hoffnungsperspektive tragen sie genauso wenig bei, wie eher individualistische Hoffnungskonzepte einer scholastischen Theologie, die theologisch bisweilen bis heute noch im Schwange sind.

Damit sind wir im Zentrum unserer Fragestellung angekommen: Es geht um die Frage, warum Hoffnung überhaupt ein eher verkanntes Wort ist, warum die Hoffnung, die das Christentum in die Welt brachte, nicht mehr trägt. Es geht um die Frage, was Hoffnung heute bedeuten kann und für wen Hoffnung gilt. Es geht um den Grund unserer Hoffnung, über den der Petrusbrief von den Christen Auskunft zu geben fordert.

Gleichzeitig geht es aber auch um die Frage, aus welcher Quelle sich säkulare Hoffnungen speisen und wie sie kompatibel sind mit der Hoffnung, die Christen treibt. Und schließlich wird zu fragen sein, wie Hoffnung in gesellschaftliche Diskurse einzuspeisen ist und was wir als Christen damit zu tun haben. Als keb wird sich weiterhin für uns die Frage stellen, wie wir jene andere Perspektive des Hoffens, die mit schlichtem Optimismus nichts zu tun hat, in gesellschaftliche Diskussionen und individuelle Überlegungen und Handlungsweisen einspeisen können.

 

1. Was ist Hoffnung - Vorüberlegungen

In unterschiedlichen Kontexten wird Hoffnung jeweils verschieden als Tugend oder als Übel beschrieben. Hoffnung gilt im Christentum als Tugend, jedenfalls in der mittelalterlichen Theologie, im Kontext mit Glaube und Liebe. „das größte aber ist die Liebe“. (Paulus).

Der Zusammenhang von Hoffnung und Glaube ist diskutierbar. Darüber wird noch zu reden sein. Vermutlich ist die Hoffnung die Grundlage des Glaubens und die Voraussetzung für die Liebe und bezieht zugleich von ihr den Sehnsuchtscharakter.

Die Ataraxie der Stoa, aber auch des Buddhismus etwa werten Hoffnung eher als Übel, weil sie Gefühle erzeugt, die nicht ins System des Gleichmaßes passen.

Auch in der Literatur gibt es derartige Hinweise, etwa bei Günter Kunert, für den Hoffnung als größtes Übel gilt, weil sie solche Systeme wie den „real existierenden Sozialismus“ hervor gebracht habe. Im Gegensatz dazu stehen dann wieder ein Wolf Biermann oder gar ein Ernst Bloch, die beide den Begriff einer konkreten Utopie eng mit dem Hoffnungsbegriff verwoben haben.

„Was dürfen wir hoffen“, ist zugleich eine zentrale Frage der Philosophie mindestens seit der Aufklärung. Kant weist die Antwort darauf der Religion zu, genauer dem Christentum. Gleichzeitig merkt er aber auch an, dass das Christentum nur so lange eine menschenwürdige Antwort darauf geben könne, solange es unverstellt sei und nicht missbraucht werde.

All diese Hinweise geben immer noch keine Auskunft darüber, was denn nun Hoffnung, geschweige denn, was ihr Gegenstand sei. Auch ist weiterhin unklar, zu welchem Ende Menschen Hoffnung haben. Deswegen an dieser Stelle ein erster Verstehensversuch:

Hoffnung oder besser: Hoffen ist offensichtlich eine Fähigkeit, die ausschließlich dem Menschen gegeben ist. Sie ist das Vermögen des Menschen, sich auf in der Zukunft Erwartetes zu richten, das die Gegenwart und ihre Missstände auf Besseres hin überschreitet. Die Fähigkeit zu hoffen resultiert damit aus der Erfahrung je gegenwärtiger Beschränktheit oder grundsätzlich dem Wissen um die eigene Endlichkeit, nicht allein im Blick auf die Lebensdauer, sondern für jeden Augenblick. In diesem Sinn ist Hoffnung das Gegengift gegen das Wissen um die eigene Sterblichkeit wie um die Sterblichkeit der Menschen, die mir nah sind. Hoffnung und Sinn hängen zusammen, wie auch Hoffnung und Erinnerung. Hoffnung in diesem Sinne ist ein Zukunftssinn, der sich aus dem Gedenken ableitet. Erinnern und Hoffen sind Wahrnehmungskomponenten oder sie sind anders gesagt ein Focus, durch den wir Menschen die Welt und uns selbst betrachten. Und da wir handelnd und damit umgehend, zugleich deutend unserer Vergangenheit Sinn zusprechen, verhalten wir uns ähnlich auch zur Zukunft. Walter Benjamin nennt das „Telescopage der Zukunft durch die Vergangenheit“.

Hoffnung in diesem Sinne ist keine Tugend, sondern ein – allerdings sinn- und wertorientierter – Wahrnehmungsfocus. Auch Glauben ist ein solcher Focus. Hoffen und Glauben sind so eng verwandt, wenn man nicht im positivistischen Sinne unter Glauben einfach ein Für-Wahr-Halten versteht, sondern Glauben als Beziehungswort liest. Und je mehr sich der Blick des Menschen weitet, umso mehr richtet sich Hoffnung nicht nur auf die eigene zukünftige Lebensgeschichte, umso mehr gerät auch die Beschränktheit und Endlichkeit jeder gesellschaftlichen Gegenwart in den Blick. So beginnt Hoffnung dann auch die Geschichte der Menschheit mit einzubeziehen, im Versuch jede Gegenwart auch gesellschaftlicher Art zu überschreiten.

Welche theologische/religiöse Dimension Hoffnung hat, darüber wird an anderer Stelle zu sprechen sein, auch darüber in welcher Weise christliche Hoffnungsbegründungen in gesellschaftliche Diskurse und auch in den interkulturellen/interreligiösen Dialog einzubringen sind. Fest zu halten bleibt an dieser Stelle, dass Hoffen, wiewohl offensichtlich eine anthropologische Grundkonstante, in dem Sinn wie es hier verstanden wird, dem kulturellen Kontext abendländischen Denkens zuzuordnen ist.

Ziel dieses Artikels ist es zu zeigen, in welcher Weise derlei Hoffen in die Geschichte eingetreten ist, unter welchen Bedingungen Hoffnung gegenwartsrelevant ist und zugleich, welche Auswirkungen das auf unser Denken haben kann.

Ein erweitertes Verständnis von Hoffnung kann somit, wenn überhaupt, allenfalls am Ende dieser Überlegungen stehen. Diese ersten Überlegungen dienen vor allem dazu, den Ausgangspunkt des gemeinsamen Nachdenkens zu klären.

Jedenfalls gehen die folgenden Anmerkungen davon aus, dass Hoffnung eine Art Focus ist, die der Wahrnehmung Flügel verleiht und die in engem Kontext mit der Fähigkeit des Erinnerns steht.

 

2. Hoffnung und Geschichte (I)

Spätestens seit mit dem Christentum auch jüdisches Denken in den griechisch-lateinischen, später in den germanischen Kulturraum Einzug gehalten hat, entwickelte sich im Okzident eine neue Form des Denkens, das nicht anders als hoffnungsgeleitet verstanden werden kann. Zwar galt auch schon im lateinischen Kontext „dumspiro, spero“ (nach Cicero), „solange ich atme, hoffe ich“. Doch war diese Hoffnung eine offensichtlich personenbezogene Hoffnung. Sie lässt sich menschheitsgeschichtlich schon in sehr frühen Kulturen nachweisen als Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod oder auch als Furcht, die Toten möchten den Lebenden Schaden zufügen. Frühe Grabbeigaben machen auf diesen Umstand aufmerksam, selbst wenn wir nicht wissen können, was das Denken damaliger Menschen wirklich umgetrieben hat.

Die Notwendigkeit einer Hoffnung über den eigenen Tod hinaus und die Konkretisierung dieser Hoffnung ist dann insbesondere nachweisbar für jene Schriftkultur, die eine Alphabetisierung eines Großteils der Bevölkerung (Männer, Frauen, Sklaven und Freie) und nicht nur bestimmter Priester/Verwaltungsbeamter implizierte. Das ist für unseren Kulturraum die Übernahme und Verwandlung des phönizischen Alphabetes durch die Griechen. Auf diese Weise entstand von 2800 Jahren eine Schrift, die wir mit gewissen Modifikationen bis heute nutzen.

Wie Menschen sich immer schon mit Hilfe ihrer Sprache die ihnen begegnende Welt erschließen und sicherer zu machen suchten, so geschah es erst recht, nachdem die Schrift der Sprache bzw. der sprachlichen Wahrnehmung eine neue Qualität hinzu fügte. Plötzlich gab es nicht mehr das Angewiesen-Sein auf das bloße Hören, das ein Verstehen für den Augenblick möglich machte, auf einmal konnten Menschen etwas, das sie nicht verstanden hatten, wieder lesen und so oft lesen, bis sie es verstanden, bis sie einen Sinn darin entdeckt hatten. Und bald schon beugten sich Menschen nicht nur über einen Text, um ihn zu verstehen, sondern auch über Naturphänomene, über das eigene Leben, über den anderen Menschen, über sich selbst, um all das zu lesen, um es besser zu verstehen. Das war der Anfang des Philosophierens wie der Anfang der Naturwissenschaften. Beides war seinerzeit identisch.

Beim Lesen des eigenen Selbst, beim Eruieren der eigenen Geschichte tauchen dann die drei zentralen philosophischen Fragen auf: Woher komme ich, wohin gehe ich, wer bin ich. Es ist der Beginn dessen, was wir Reflexion nennen. Und es ist der Beginn einer reflexiven Auseinandersetzung mit Herkunft und Zukunft, der Beginn des Wissens darum, dass beide, Herkunft und Zukunft, Auswirkungen haben auf das Ich bzw. auf das sich reflektierende Selbst in jeder Gegenwart. An dieser Stelle beginnt die individuelle Hoffnung auf ein Wohin nach Konkretion zu fragen. Gleichzeitig ist mit dem Entstehen von Schriftkultur immer auch Systematisierung und schriftliche Sicherung des Erinnerten gegeben. Nicht zufällig entstand als eines der ersten großen Werke eine Systematisierung des bisher ziemlich disparaten griechischen Götterhimmels (Hesiods Theogonie) und etwa zur gleichen Zeit kamen die ersten Mysterien-Religionen auf, die ihren Anhängern multimedial und für alle Sinne begreiflich ein Wohin zeigten, das tröstlich über den Tod hinaus wies.

Die griechische Philosophie hingegen hat sich mit der Frage eines „Über den Tod hinaus“ nur marginal beschäftigt. Selbst Platons Dialoge, die um den Tod des Sokrates kreisen, machen allenfalls deutlich, dass ein Mensch aus vernünftigen Gründen keine Angst vor dem Tod zu haben braucht. Denn entweder gibt es kein Leben nach dem Tod, dann ist es für den Toten belanglos, oder wenn es ein Leben nach dem Tode gibt, dann muss es in einem Zusammenhang mit dem Leben vor dem Tode stehen. Und darum lohne es sich gut zu leben gleichermaßen für das Leben vor wie nach dem Tod.

Es ist nicht verwunderlich, dass, nachdem die christlichen Theologen des Mittelalters Plato und Aristoteles entdeckt hatten, auch die mittelalterliche Theologie sich sehr ausführlich mit dem individuellen Wohin des Menschen beschäftigte. Noch in der Enzyklika Benedikt XIII. „Spe salvi“ steht diese Perspektive im Vordergrund vor einer geschichtstheologischen Hoffnungsdeutung, auch wenn sich der Text grundsätzlich gegen eine individualistische Verengung des Hoffnungsbegriffs ausspricht.

Das Judentum ist hier auf der Basis einer identitätsstiftenden Gottesvorstellung einen anderen Weg gegangen. Das Schicksal des Einzelnen, sein Wohin war in viel größerem Maße an die Existenz des gesamten Volkes gebunden, mit dem der Gott Israels seinen Bund geschlossen hatte. Noch bis ins zweite vorchristliche Jahrhundert, ja noch bis in die Zeit Jesu hinein war innerhalb der jüdischen Theologie keineswegs entschieden, ob es ein wirkliches Leben nach dem Tode gebe. Der Psalmist spricht davon, dass Gottes Arm nicht in den Sheol reiche, oder er fragt seinen Gott ironisch: „Sollen etwa die Toten dein Lob verkünden?“.

Gleichzeitig gibt es in Israel eine starke prophetische Tradition, die häufig neben der priesterlich-rituellen her läuft und gleichermaßen in den Schriftenkanon Israels aufgenommen wurde. Diese Propheten waren es, die den Blick auf das Wohin des Volkes lenkten und auf der Basis der Thora die Geschichte des Volkes mit seiner Zukunft verbanden. Entgegen kommt einem solch prophetisch erinnernden Denken die Tatsache, dass das Hebräische, wie die semitischen Sprachen insgesamt, eine Sprache ist, die die Zeit nicht verbal einteilt. Gesprochen wird immer in der Gegenwart. Gleichzeitig kennt das Hebräische kein ontologisches, also auf das Sein an sich bezogenes Sprechen. „Sein“ ist immer eine „Sein für“. Insofern ist auch die Selbstbenennung des jüdischen Gottes, wie sie im zweiten Buch Mose (Exodus) vorgenommen wird, keine ontologische Aussage mit statischem Charakter: „Ich bin, der Ich bin“, sondern eine zeitübergreifende Zusage, die wir in unserem indogermanischen Sprechen nur sehr unzulänglich wiedergeben können: „Ich war für euch, der ich in Zukunft für euch sein werde.“ bzw. umgekehrt mit Blick auf die Vätergeschichte: „Ich werde für euch sein, der ich immer für euch war.“. Auch deshalb erinnert der Psalmist in den Klagepsalmen aus tiefster Not heraus immer wieder dran: Du hast mir bzw. unsern Vätern bzw. dem Volk früher Gutes getan, so wirst du uns auch heute und in Zukunft retten.

Aus der Deutung seiner Geschichte als einer Geschichte mit seinem Gott heraus wächst in Israel eine kollektive Hoffnung auf die Zukunft des Volkes, die sogar den tiefsten Bruch dieser Geschichte noch einholt: Die sogenannte babylonische Gefangenschaft. Die Hoffnung auf ein zukünftig strahlendes, ein sich freuendes Jerusalem (Jesaja) wirkt tatsächlich auf die je gegenwärtige Geschichte Israels ein. Hier wird eine visionsgespeiste Hoffnung, die ihre Kraft aus der Erinnerung bezieht, zu einem innergeschichtlichen Wirkungspotential. Und erst innerhalb dieses geschichtlichen und -- wir würden heute sagen -- gesellschaftlichen Potentials beginnt sich dann auch die individuelle Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode zu etablieren, beginnend mit den Makkabäer-Aufständen und der Frage, was aus den Märtyrern denn werde nach deren Ermordung.

Die apokalyptischen Vorstellungen, die seit dem 2. Jahrhundert vor Christus und bis ins zweite nachchristliche Jahrhundert hinein wirksam waren, die messianischen Vorstellungen, die eng an die Hoffnungsgeschichte des mythischen Davidsreiches gebunden waren, verschärften den geschichtstheologischen prophetischen Blick noch, indem sie eine geschichtsüberschreitende Macht Gottes in den Blick nahmen, vor der auch ein Römisches Reich mit seinen Cäsaren nicht bestehen konnte.

Auch diese Tradition hat sich ins abendländische Denken hinein fortgepflanzt. Es sind die chiliastischen Bewegungen des Mittelalters bis in die Neuzeit hinein, die von diesem Denken geprägt waren. Es waren das Bewegungen, die tendenziell für jede Herrschaft gefährlich werden konnten, weil sie sie mit dem Anspruch der alleinigen Herrschaft Gottes und dem nahen Anbruch des Gottesreiches konfrontierten. Da aber solche Bewegungen tatsächlich für das jeweils herrschende System –religiös wie weltlich – als gefährlich empfunden wurden, wurden sie bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Franziskus) zu Ketzereien erklärt und damit gebannt und ausgesondert.

3. Hoffnung und Geschichte (II)

Vor dem Hintergrund der Katastrophen des 20. Jahrhunderts in Europa, vor allem vor dem Hintergrund der Shoah, der Judenvernichtung durch die deutschen Nationalsozialisten während des sog. Dritten Reichs gewann eine stark von jüdischen Vorstellungen und von jüdischen Menschen geprägte Art des Denkens bereits während des 2. Weltkrieges und vor allem danach an Bedeutung zu gewinnen: Gemeint sind hier einige Denker der sog. Kritischen Theorie (Horkheimer, Adorno, Benjamin) sowie Ernst Bloch.

Wie im Judentum um die Zeitenwende herum angesichts tödlicher Bedrohungen zunächst durch den Hellenismus, später durch das Römische Reich messianische und apokalyptische Vorstellungen aufbrachen, die ihren Ursprung aber in der erinnerten d.h. gedeuteten Geschichte hatten, so wird das Erinnern z.B. für Walter Benjamin angesichts der sich abzeichnenden geschichtlichen Katastrophe zu einem Konstituens für die Gewinnung von Zukunft. Benjamin nutzt dafür den wunderbaren Begriff des „Eingedenkens“. Im Anhang zu seinen Thesen über den Begriff der Geschichte macht er deutlich, was er mit diesem Begriff meint: „Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Thora und das Gebet unterweisen sie hingegen im Eingedenken. Dieses entzauberte ihnen die Zukunft, der die verfallen sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft holen. Den Juden wurde darum die Zukunft aber doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.“

Die vom Judentum bekannte und im psalmischen Beten vor allem sich artikulierende Verbindung von zukünftiger Rettung und vergangener Rettungsdeutung, also Rettungserfahrung wird bei Benjamin zur hoffnungsoffenen Zukunft durch Eingedenken. Dabei behalten die Gedanken Benjamins gleichwohl eine immerwährende Nähe zu theologischem Denken, wenn er anderswo darauf hinweist, dass es notwendig sei so zu leben, dass jede Sekunde des eigenen Lebens jene kleine Pforte (s.o.) sein könne.

Gleichzeitig gewinnt aus der Position des Eingedenkens heraus Hoffnung, wenigstens letzte Hoffnung eher advokatorischen Charakter: Nicht die Hoffenden brauchen die Hoffnung, sie haben sie ja– wie auch immer. Benjamin meint vielmehr, dass „die letzte Hoffnung niemals dem eine ist, der sie hegt, sondern jenen allein, für die sie gehegt wird.“ Zugespitzt heißt das dann wie im Titel diese Versuches: „Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.“

Die Aktualisierung gedeuteter Geschichte in jeder Gegenwart eröffnet nicht nur der Gegenwart hoffnungsvolle Zukunft, sondern nimmt jene Vergangenheit mit. Allerdings weiß Benjamin auch, dass solches erst – wie er sagt – einer „erlösten“ Menschheit wird möglich sein. Hier wird etwas deutlich, das angesichts der Vernichtungskatastrophen seiner Zeit mehr denn je notwendig zu denken wurde: Dass nämlich eine erhoffte gute Zukunft unmöglich wird, wenn sie nicht auch den Verlorenen und dem Verlorenen in der Vergangenheit offen steht. Auch in diesem Sinne ist das advokatorische Hoffen bei Benjamin zu verstehen.

Für die folgende kritische Theorie (bei Horkheimer/Adorno) sind derlei Überlegungen zu theologisch, vielleicht gar zu mystisch. Denn Benjamins Denken weist alle Züge eines prophetisch-mystischen Denkens auf der Basis des Eingedenkens auf. Insbesondere für Adorno wird das Denken von Versöhnung des Unversöhnbaren zu einer Kategorie der Unmenschlichkeit. Sein viel zitierter und von ihm selbst später modifizierter Satz, dass man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben könne, weist in diese Richtung, weil jedes Gedicht tendenziell auf Versöhnung ziele. Tatsächlich hat Adorno ja Recht mit seiner Vorstellung von der Verunmöglichung erhoffter guter Zukunft vor dem Hintergrund der Leidenserfahrungen der Vergangenheit. Und gleichzeitig wäre es ein Preisgeben der Hoffnungen, die die Leidenden noch in den schlimmsten Momenten in sich getragen haben, würden wir – falls wir es überhaupt könnten – alle Hoffnung aufgeben. „Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate“ – Lasst alle Hoffnung, ihr, die eintretet, das ist zwar der Eingangsspruch zur Hölle in Dantes Divina Commedia. Im Blick auf die in der Geschichte verloren Gegangenen aber, wäre es ein zweiter Verrat, würde unsere Hoffnung nicht ihnen gelten. Und wir selbst? Solange wir leben, bleibt uns nichts als zu hoffen – zur Verzweiflung hin, wenn die Hoffnung leer ist, und auf Versöhnung hin, wenn die Hoffnung sich zu gründen weiß.

„Einmal zog einer weit hinaus, das Fürchten zu lernen. Das gelang in der eben vergangenen Zeit leichter und näher, diese Kunst ward entsetzlich beherrscht. Doch nun wird, die Urheber der Furcht abgerechnet, ein uns gemäßeres Gefühl fällig.
Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt, statt ins Scheitern. Hoffen, über dem Fürchten gelegen, ist weder passiv wie dieses, noch gar in ein Nichts gesperrt. Der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus…“

Das steht am Beginn des vielseitigen Werkes „Das Prinzip Hoffnung“, in dem Ernst Bloch auf Spurensuche geht in der Geschichte und in den kulturellen Hervorbringungen der Menschen vor allem, nach dem was Hoffen gründen kann. Herausgekommen ist eine nicht immer eindeutige Anthologie von Hoffnungsgeschichten und Geschichte, an deren Ende der Selbstüberschreitungscharakter von Hoffnung offen gelegt wird.

Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“

„Das Prinzip Hoffnung“ lesend bewegt man sich durch den Text wie in einer Märchenstunde, immer im Bewusstsein, dass das Ende doch irgendwie gut sein wird. Es ist ein Denken von hoher Immanenz, das den Menschen nicht nur zum Urheber seiner Geschichte, sondern auch zum Schöpfer seiner selbst macht.

Der Gedanke der hinter dieser Hoffnungsphilosophie steckt ist, dass in jeder Gegenwart auch in den vergangenen Gegenwarten tendenziell jene Zukunft bereits angelegt ist, sie ist aber verborgen und kann deswegen keine Kraft entfalten. Die Aufgabe der Philosophie, wie Bloch sie versteht, ist: Diese Latenzen zu öffnen und dadurch die diesen Tendenzen innewohnenden Potentiale wirksam werden zu lassen.

Vor dem Hintergrund benannten Schreckens ist diese Philosophie bemerkenswert optimistisch, häufig auch ein wenig blauäugig. Letztendlich denkt sie nur von jener „Heimat“ her. Das heißt aber auch, dass jene Heimat auf den Schultern vieler ruhte, wenn sie denn je herstellbar wäre, die ihrer eben nicht teilhaftig werden, die als restlos verlorene Märtyrer auf dem Weg der Geschichte zurückbleiben, die zwar, wie es an anderer Stelle heißt, eingeschreint bleiben im Herzen der Arbeiterklasse, deren Los aber doch jede Zukunft auch immer noch bestürzen muss, wenn diese nicht vollkommen erinnerungslos sein will. Dann aber stellte sich wiederum die Frage, ob eine erinnerungslose Zukunft tatsächlich eine gute, das heißt eine menschliche Zukunft ist. Denn das Erinnern gehört, wie das Wort Mensch weiß, zum Menschen (memento, Anamnesis) als Konstitutivum.

Vielleicht ist das eine Besonderheit jener ganz immanenten Hoffnungsphilosophien, dass sie am Ende auch banal wirken, weil sie der Sprengkraft dessen, was Hoffnung auch meinen kann, nämlich Selbstüberschreitung, Sehnsucht nach etwas „ganz Anderem“ nicht auf den Grund kommen, weil sie vorher zu denken aufhören.

Der Gedanke, dass jede Gegenwart etwas dazu beiträgt, dass jene erhoffte Heimat einst entsteht, wirkt angesichts gegenwärtiger Funktionalisierungen und Funktionalismen durchaus naiv. Die Erfahrung, dass keine Gegenwart frei ist von den Prägungen des Vergangenen, dass beispielsweise heute noch Familien darunter leiden, wenn aus ihnen in den Schreckenszeiten des 20. Jahrhunderts Täter oder Opfer hervor gegangen sind, bleibt in diesem Denken noch stärker unberücksichtigt als die Erfahrung, dass was heute ist, ebenso vom Morgen mit geprägt wird, von den Visionen und der Tatsache, dass Zukunft – zumindest vom Wort her – durchaus aktiv verstanden werde kann. Zukunft erscheint zumindest im Prinzip Hoffnung bisweilen als das bloße Resultat vieler Gegenwarten. Das mag bei dem, was wir Fortschritt nennen, der Fall sein, bei der Gestaltung menschlicher Zukunft ist es wohl eher nicht der Fall.

Sicher gibt es vieles am Werk Ernst Blochs, das auch eine andere Sprache spricht. Die Bedeutung dieses Werks ist kaum zu überschätzen und in seiner Vielfalt spannend und immer wieder aufregend. „Ich bin, aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ Diese Sätze aus der Tübinger Einleitung machen jedenfalls noch einmal deutlich, was das Zentrale ist am Denken Ernst Blochs, dass nämlich Zukunft nicht wird ohne menschliche Gestaltung, dass auch die Menschwerdung des Menschen nicht gelingt im Alleingang sondern im Wir. Schließlich auch der wiederkehrende Hinweis, dass eine Hoffnung, die Abstraktionen verhaftet bleibt, die in jeder Gegenwart nichts Zukunftsweisendes zu entdecken vermag, jedenfalls eine kraftlose und damit wirkungslose Hoffnung bleibt, die dauerhaft der Verzweiflung verfallen mag.

 

In Einem

Und hätt ich keine Träume
So wär ich doch kein anderer
Ich wär der gleiche ohne Träume
Wer rief mich heim --
                                                Ilse Aichinger

4.Unterwegs zu einer Sprache der Hoffnung

Wenn Ernst Bloch darauf aufmerksam macht zu Beginn des „Prinzip Hoffnung“, dass nun Hoffnung zu lernen sei nach all dem, was nur zu fürchten war, so mag das eine richtige Analyse seiner Zeit gewesen sein. Für die Gegenwart scheint mir allerdings zu gelten, dass genug Hoffnungen auf dem Markt sind – oder vielleicht eher Optimismen, dass es hingegen gilt, Worte, vielleicht sogar eine Sprache zu finden, die einer Hoffnung Ausdruck geben, die gleichzeitig nicht funktionalisierbar und dennoch bewegend und handlungsweisend ist. Wo anders sollte nach einer solchen Sprache zu suchen sein, als in der Literatur, in der Dichtung, jener kulturellen Artikulationsform also, die sich zentral um Sprache kümmert. Vielleicht dass bei den Dichterinnen und Dichtern Worte zu finden sind, die gegenwärtig sind und dazu beitragen zu verstehen, was es mit Hoffnung auf sicht hat in einer Zeit, die immer noch Krieg und Untergang im Drei-Generationen-Gedächtnis hat und die gleichzeitig ganz anderen Prägungen ausgesetzt ist: Neuen Brüchen und Unmenschlichkeiten wie auch technischem Fortschritt und neuen Entwicklungen.

Zu Beginn noch einmal eine Erinnerung an den Anfang dieser Überlegungen:

Wieder war Adam traurig, und wieder sprach Eva ihm zu: - Siehe, du weißt nicht, was mit dem Stein geschehen ist. Fürchte dich nicht, behaue einen neuen Stein, gib ihm das Zeichen unseres Wunsches und schleudere wieder. Adam tat, wie Eva ihm geheißen. Er tat es noch oft und tat es immer, wenn ihn die Trauer auf seinem Felde verzehrte. So hat Adam, der Legende nach, den Brief erfunden, und der erste Brief war ein versuchter Wurf nach dem verlorenen Paradies.
                                                                                                                                               
H.G. Adler

Der Text ist das Ende einer kleinen Legende, die sich in dem 1988 erschienen Roman „Die unsichtbare Wand“ findet. Ausgangspunkt ist die Situation, dass Adam leben will, der Herr aber gesagt hat, er sei Erde uns müsse wieder zur Erde.

Drei Momente lassen sich an dieser kleinen Legende ablesen:

§ Es ist die erfahrene und gewusste Endlichkeit, die verzehrende Trauer bei Adam auslöst.

§ Aus dem Miteinander, hier aus der Liebe, entsteht eine Kraft, sich der Verzweiflung zu widersetzen und es werden Methoden entwickelt, wie vielleicht das Blatt zu wenden sei. Das ist nichts anderes als der Versuch einer Hoffnungssprache, in Stein gemeißelt und zugleich fliegend.

§ Was am Ende entsteht ist ein Brief, „ein versuchter Wurf nach dem verlorenen Paradies“. Und statt Brief hätte dort auch stehen können: Dichtung, dies Wort das mit griechisch „deiknymi“ und lateinisch „dicere“ verwandt ist und im Deutschen vom Klang her auch Dichte signalisiert.

Allerdings ist dieser Wurf ein „versuchter“ Wurf, dessen Gelingen nie überprüfbar ist und der – man könnte, aber sollte nicht sagen – offensichtlich vergeblich ist.

Umso mehr stellt sich die Frage, warum sich Dichtung, warum sich wohl alle Kunst unentwegt nach dem Unerreichbaren, nach Versöhnung, Erlösung und Paradies streckt, wiewohl sie zu ahnen scheint, dass sie all das nicht aus eigener Kraft wird erreichen können.

Eine mögliche Antwort darauf ist, dass Dichtung, Kunst einfach nicht aufhören kann, auf Überschreitung zu sinnen, weil das Leid, wie Adorno sagt, ein Anrecht auf Ausdruck hat. Jenem „Brief“ vorausgehend ist ja das Leiden an der eigenen Endlichkeit, und so ist der Brief nicht nur der Versuch, eine andere als die zu erwartende Zukunft ins Leben zu rufen, er ist zugleich Klage darüber, dass nicht ist, was doch sein sollte.

An dieser Stelle zeigt sich, das Klagen und Hoffen miteinander verwandt sind. Auch Klagen, das vom Wort her der Gerichtssprache entlehnt ist, geschieht aus dem Wunsch nach Veränderung. Alles andere wäre Stöhnen und Jammern.

Eine Antwort auf die oben gestellte Frag könnte sein, dass Dichtung, Kunst einfach die Frage nach Zukunft offen halten muss, selbst im vollen Bewusstsein, sie nicht herstellen zu können.

Günter Kunert macht das in einem Gedicht zum Thema „Utopia“ deutlich:

Unterwegs nach Utopia

Vögel: fliegende Tiere
ikarische Züge
mit zerfetztem Gefieder
gebrochenen Schwingen
überhaupt augenlos
ein blutiges und panisches
Geflatter

nach Maßgabe der Ornithologen
unterwegs nach Utopia
wo keiner lebend hingelangt
wo nur Sehnsucht
überwintert

Das Gedicht bloß gewahrt
was hinter den Horizonten verschwindet
etwas wie wahres Lieben und Sterben
die zwei Flügel des Lebens
bewegt von letzter Angst
in einer vollkommenen
Endgültigkeit.
                          Günter Kunert

Unterwegs nach Utopia – das ist nach den Vorstellungen des „realen Sozialismus“ bzw. des historischen Materialismus die Menschheit. Und sie es auf diesem Weg unterwegs nach fest stehenden Gesetzen.

Hier nun heißt es, das seien Vögel, also fliegende Tiere, keine Menschen. Und dann kommt doch wieder Menschliches ins Spiel: Ikarus, der Sohn des Dädalus, der hoch hinaus wollte, der die Bahn des Mittelmaßes verließ und zum Opfer seiner eigenen Träume wurde und abstürzte.

Im doppelten Sinne wird hier mit dem Zukunftswahn einer machbaren Utopie gespielt: Ikarus zeigt, dass der Mensch dazu nicht in der Lage ist, und der Vogelflug, aus dem einst die Geschicke der Zukunft gelesen wurden, dient hier in der Wahrnehmung des Gedichtes der Kennzeichnung eines Unheilsfluges: Menschheitsgeschichte als blutiges und panisches Geflatter. Ohne Richtungsweisung (augenlos) und ohne die Kraft die Höhe zu halten.

An dieser Stelle treten die Ornithologen auf, die Vogelkundler, die es doch wissen müssen. Sie sind aber keine Wissenden, sie forschen nicht, nehmen nicht wahr, sondern geben das Maß vor: Wie der Zug auch aussehen mag, er hat unterwegs nach Utopia zu sein.

Doch weiß es das Gedicht besser, wenn es behauptet, dass dorthin niemand lebend gelangt, nicht jedenfalls mit diesem nach vorgegebenem Maß instruierten Todesflug. Utopia, das ist ein Ort für die Sehnsucht, die dort überwintert, bis sie wieder anderswo ihren Ort findet, vielleicht sogar im realen Leben (vgl. Adam bei H.G. Adler).

Das Gewahren des Gedichts, seine Wahrnehmung, die auch Deutung ist, weil Wahrnehmung immer Deutung ist, seine Wahrnehmung, die aber auch Wahres sehen will, erkennt anderes als die von Maßgaben verblendeten Ornithologen: Es gewahrt etwas wie „wahres Lieben und Sterben“. Das ist Menschlichkeit, wie sie auch bei Adler auftritt: Lieben als die augenblicksweise Vollendung und Sterben als der Vollzug von Endlichkeit und menschlicher Begrenzung. Während aber bei Adler das Ende offen bleibt, verzeichnet das Gedicht diese beiden „Schwingen des Lebens“ als bewegt von letzter Angst – das ist das Gegenteil von dem, was Hoffnung meint. Schließlich wird dieses Gedicht zum endgültigen Abgesang auf jegliche gesteuerte UtopieBewegung, weil diese Angst erzeugt und nichts als Todesflüge inszeniert.

Kritisch gerichtet ist das Gedicht auf jede Hoffnungsideologie mit Utopie-Charakter. Ein Abgesang auf die Menschlichkeit ist es nicht, im Gegenteil; Noch im Schrecken des Utopievollzuges, der immer unmenschlich sein muss, weil er weiß wie Zukunft auszusehen hat und sie herstellen will, die doch auch kommen muss und immer anders sein wird als gedacht, erkennt das Gedicht Menschsein als ausgespannt zwischen Lieben und Sterben, jenen beiden Polen, zwischen denen übrigens auch die Dichtung flimmert.

Kunerts Gedicht korrespondiert in gewisser Weise mit der IX. Geschichtsphilosophischen These von Walter Benjamin (s. Titelblatt). Was das Gedicht hier kritisiert ist wohl auch das, was bei Benjamin „Fortschritt“ heißt. Und mit diesem Fortschritt hat Hoffnung relativ wenig zu schaffen.

Du sei wie du, immer.

Stant up Jherosalem inde
erheyff dich

Auch wer das Band zerschnitt zu dir hin,

inde wirt
erluchtet

knüpfte es neu, in der Gehugnis,

Schlammbrocken schluckt ich,
im Turm,
Sprache, Finster-Lisene,

kumi
ori.
                          Paul Celan

Es ist dies ein spätes Gedicht von Paul Celan aus dem 1970 erschienenen Band „Lichtzwang“. Und es ist ein Gedicht aus dem Meister Eckhart-Kontext dieses Bandes.

Celans große selbstgestellte oder durch seine Geschichte ihm gestellte Lebensaufgabe war es, der Deutschen Sprache, die im wahrsten Wortsinn seine Muttersprache war, aus ihrer Infektion durch die Sprache der Unmenschen zu helfen. Er hat dabei sprachlich ausgezeichnete Gedichte geschaffen und ist an der grundsätzlichen Aufgabe dennoch gescheitert: Die Deutsche Sprache ist immer noch gezeichnet durch die Verhunzung propagandistischer Antisprache. Und die gegenwärtige Politik trägt nicht eben zu einer Verbesserung bei.

In diesem Gedicht beschreibt Celan einen Weg, wie sprachliche Zukunft gewonnen werden könnte. Es ist eins der erstaunlichen Hoffnungsgedichte im Werk Celans.

Im Zentrum des Gedichtes steht Jerusalem, das Jerusalem Jesajas, das licht und strahlend werden soll. Die Anrede am Anfang allerdings ist vieldeutig: Wer ist das angesprochene Du? Und warum steht dort ein Wie? Das „immer“ dagegen weist auf die Zeit, auf Geschichte. Und so sinkt die Sprache in der Zeit zurück, in der Sprache, ins Mittelhochdeutsche: Was sich dort kursiv gedruckt findet ist das Zitat des Anfangs einer Predigt von Meister Eckhart: „Surge illuminareJherosalem“, mit dem er seinen Zuhörern den lateinischen Text verdeutscht, das Zitat von Jesaja 60. Dieses Zitat weist literarisch auf die Befreiung aus babylonischer Gefangenschaft hin. „Steh auf Jerusalem und erhebe dich!“. Also steht im Mittelpunkt des Gedichtes vielleicht nicht Jerusalem, sondern wohl eher die Verheißung, oder noch mehr: Die Sprache der Verheißung, die ja immer auch eine Sprache der Hoffnung sein muss.

Allerdings bricht das mittelhochdeutsche Zitat ab, wird zerschnitten von einem gegenwartssprachlichen Satz: „Auch wer das Band zerschnitt zu dir hin…“ – Wieder ist das Du da, und wenn es das gleiche Du ist wie am Anfang, dann beginnt das Du sich zu konkretisieren: Es ist das verheißene Jerusalem, es ist das, was für Befreiung aus der Knechtschaft steht, etwas Zukünftiges also, etwas Rettendes.

Unter dieser Voraussetzung ist die Ansprache am Anfang die Aufforderung, dass die Verheißung niemals verloren gegeben werden darf, immer sei dieses Du. Es möge sich gleich bleiben, heißt dann das „wie“ und es möge das sein unter den unterschiedlichsten Bedingungen und Zeitläufen.

Sich von derlei Verheißenem zu verabschieden, das kommt vor in Zeiten der Not, in Zeiten der Verzweiflung, wenn die Verheißung nicht trägt, wenn sie zu abstrakt bleibt, um retten zu können. Und es geht auch nicht um die Verheißung nur, sondern auch um die Sprache der Verheißung, der das Gedicht hier nachgeht: Auch sie trägt nicht mehr, oder schlimmer noch: Sie wurde verdorben durch die Sprache des „Heil, Heil“ schreienden Mobs. Und deshalb wird das Band zu dieser Hoffnungssprache durchgeschnitten.

Doch meldet sich die Verheißung in ihrer älteren Form wieder zu Wort: „indewirterluchtet“, das heißt: „Und werde licht“. Die Verheißung galt seinerzeit Jerusalem, hier ist die Sprache selbst mitgemeint. Und so knüpft das einst zerschneidende Wer das Band neu, das Band zur Sprache, den Bund, der im Band mitklingt.

Das Wo, der Ort, an dem das geschieht, ist geheimnisvoll. Er findet sich unter diesem Namen in keinem Wörterbuch. Dabei klingt er durchaus gegenwärtig, sieht aus wie ein Gegenwartswort. Aber das ist es nur formal, real leitet es sich ab von einem mittelhochdeutschen Wort das Meister Eckhart in der genannten Predigt ebenfalls benutzt: „Gehochnysse“. Das bedeutet „Erinnerung“ oder besser „Eingedenken“. Und dies Wort vollzieht sprachlich, was es sagt: Es ist selbst ein Erinnerungswort.

Im Eingedenken also wird das Band neu geknüpft, aus dem Erinnern heraus. Und dieses Erinnern geht jetzt seinen Weg: Schlammbrocken, Turm, Unrat und Gefangenschaft also, Sprache die finster ist, die verdorbenen Verheißungswörter, die verlorene Hoffnungssprache. Und dennoch bleibt Sprache Strukturelement, lenkt den Blick, tiefer noch und mehr ins Erinnern, ins Eingedenken und findet zu den Urworten „kumiori“, die fremd klingen in unserer Sprache und doch der Ursprung sind auch des Textes von Meister Eckhart: Steh auf, werde licht, jetzt auf hebräisch und damit 2500 Jahre zurückgehend in der Erinnerung des Volkes, dem Celan sich zugehörig wusste.

Braucht es also Urworte, um Hoffnung heute noch sagen zu können? Das Du des Anfangs weitet sich: Es ist auch die Sprache der Hoffnung, die hier gemeint ist, es ist auch das sprechende Ich, das sich selbst anredet, es ist all das in der Konklusion des Eingedenkens. das hier in diesem Text zueinander findet und von der Bedeutung einer Hoffnungssprache spricht für alle, die leben, für die Überlebenden aber besonders.

Noch einmal sei hier ein Rückblick auf die Sätze Walter Benjamins erlaubt: Wir haben, das sagt uns auch dieses Celan-Gedicht, die Hoffnung um der Hoffnungslosen willen. Und ihretwegen lohnt es sich, an einer Sprache der Hoffnung weiter zu arbeiten und bemeißelte Sehnsuchtssteine in Richtung Paradies zu schleudern, selbst wenn dadurch die Welt sich nicht ändert. Was sich ändert, ist das Ich in der Welt.

Wann?

Wenn es den Einen gibt,
der hineinschlüpft in die Stimme
und miterwacht im Auge,
mithört, und der ja sagt,
hören wir es, sehen wir es,

wenn er dabei ist
bis in die Knochen,
mitsterbend, mildernd den Tod,
ein sicheres Dasein
wäre die Liebe,
zwei gegen einen.

Schlügen die Sätze Funken,
erleuchteter, wäre die Erfahrung
ruhiger, das Beweisen sich selbst klar?

Das Zögern ginge beschützt vom Weg
dem Ende zu, zu finden,
was ohne Gefundensein nicht ist.
                                       Alfred Kolleritsch

Das Wann am Beginn dieses Gedichtes von Alfred Kolleritsch, dem Altmeister der österreichischen Lyrik, ist ein Zeit-Frage-Wort. Wann ist es so weit, dass geschieht, was das Wenn in der Folge meint. Es ist die Frage danach, wann in der Sprache angekommen sein wird, was an Hoffnung an einer Gegenwart des Einen, der nach alter Rechtschreibung großgeschrieben ist und damit den Einzigen Einen meint, hängt.

Das folgende Wenn ist eigenartig, weil es nicht auf einen Konditionalis herausläuft, sondern auf einen Indikativ. Wenn, aber was nun: Wenn es diesen einen in jeder Gegenwart und in jedem Zustand gibt…

Und nun wird deutlich, dass all das längst nicht in der Sprache angekommen ist. Denn nun kommt der Konjunktiv ins Spiel: Wäre es dann leichter, zwei zu eins gegen den Tod, wäre die Endlichkeit besiegt? Gäbe es plötzlich eine Sprache der Hoffnung, die wahr machen würde, was sie meint?

Das Gedicht verneint all das. Ein Du, das dieser Eine wäre, würde die Endlichkeit nicht auslöschen, es wäre kein Lichtblitz in der Sprache oder in der Geschichte weder der Welt noch der Einzelnen.

Die Endlichkeit gehört zum Menschsein, das Wissen um sie macht Menschen erst zu Menschen. Und wer das abzuschaffen sich vornähme, gelänge wieder nur in jenes blutige und panische Geflatter, in die ikarischen Züge, von denen Günter Kunert spricht. Darum kann es dem Gedicht nicht gehen, keinem Gedicht, und das ist auch nicht das Ansinnen des Adlerschen Textes, der genau um die Vergeblichkeit eines jeden Steinwurfs nach der Aufhebung von Endlichkeit weiß.

[„Darumbe so bite ich got, dasz er mich quit mache gotes“. Da spricht wieder Meister Eckhart in seiner Predigt „Beatipauperumquiaipsorumestregnumcoelorum“. Wo Menschen sich zu Gott erhöhen, beginnt keineswegs die Hoffnung, sondern die Unmenschlichkeit.]

Und so bedarf es der Endlichkeit, damit der Mensch Mensch bleiben darf und kann, auch wenn er unentwegt an deren Überschreitung arbeitet und sie doch nie erreicht.

Aber das Zögern, die Unsicherheit verlöre ihre Heimatlosigkeit. Und es gäbe vielleicht doch etwas zu finden, ein Ich vielleicht oder vielleicht ein Du, ein Wir, Heimat also, vielleicht anders als Bloch sie versteht, aber doch: Heimat, wie sie ungefunden gar nicht existiert.

In eine ähnliche Richtung weist auch das kleine Gedicht von Ilse Aichinger, das als Motto diesem Abschnitt voran steht: Die Welt und das ich veränderten sich nicht ohne jene Träume und die Sprache die sie brauchen. Aber es gäbe wohl keine Heimat, die rufen würde, ohne sie.

Nach all diesen Befunden braucht es wohl, um eine wahre Hoffnungssprache zu finden, die nicht bloß Propaganda oder Marketing im Sinn hat, viererlei:

§ Die Sprache und die Worte selbst ebenfalls dem Erinnern auszusetzen und auf implizite Verheißungsworte hin zu überprüfen.

§ Das Bewusstsein eigener Endlichkeit zu akzeptieren und gleichermaßen die Frage nach dessen Warum und die Klage darüber offen zu halten.

§ Zutrauen zu haben gegenüber den Träumen, die mich anwehen von wer weiß wo, und sie auf ihre „Findungskraft“ hin zu überprüfen.

§ Ein Du zu denken, dem diese Sprache, die immer auch Gespräch ist, gelten kann.

 

5. Hoffnung und Geschichte (III)

Nach einer alten Legende sprach Gott mit den Kindern Israel und sagte: „Kinder, wenn ihr die Thora annehmt und die Gebote (Mizwot) befolgt, mache ich Euch ein kostbares Geschenk.“ „Und was wäre das für ein Geschenk?“ fragten die Kinder Israel. „Die Kommende Welt!“ „Sag uns, wie die kommende Welt sein wird!!“ forderten die Kinder Israel. Und Gott erwiderte:: „Ich habe euch schon den Sabbat gegeben. Der Sabbat schmeckt wie de Kommende Welt.“
                          Alfred J. Kolatch, 1996 (1916)

Es bleibt fragmentarisch, was hier zu sagen ist, aber das Fragmentarische entspricht vielleicht auch am ehesten einem Nachdenken über Hoffnung, ihre Gründung und über Zukunft.

Die Gebrochenheit, die all dem anhaftet, wird im Judentum aufgehoben durch die Feier des Sabbats, der gleichermaßen Freiheitszusage wie Erinnerung an erlebte Gefangenschaft sein will. Die Feier des Sabbat ist konstitutiv für das Volk Israel, auch wie er eine Zukunft umfasst – als Hoffnung, die Israel in jedem Augenblick seines Daseins bewusst ist. Der Gott der Väter (s.o.) ist der Gott der Gegenwart und der Gott der Zukunft.

Von Hoffnung zu sprechen, hat in unseren Zeiten etwas Vages. Das mag auch daran liegen, dass es so schwer fällt, das Wohin solcher Hoffnung zu benennen oder überhaupt ausfindig zu machen. Es mag auch darin seine Ursache haben, dass Gegenwart einen Absolutheitsanspruch erhebt und – gerade in Deutschland – das Erinnern zur Last, für manche gar zu Belästigung geworden ist.

Maßgebliche Elemente dessen, was Hoffnung erst praxisrelevant macht, sind also teilweise ausgefallen. Auch das Erzählen, das dem Erinnern Wege bereitet, ist vielfach als ineffizient verurteilt und allenfalls im Kinderzimmer erträglich.

Wenn aber stimmt, was im Rekurs auf die literarischen Texte deutlich wurde, dann lohnt es sich vielleicht doch, nach Träumen, Visionen und Perspektiven zu fragen, die sich – ohne Zukunft festlegen zu wollen – in der Geschichte und in unserer Tradition finden.

Vom christlichen Denken her, das ja auf eigene Weise jüdische Vorstellungen in das griechisch-hellenistisch-römische Denken eintrug, gibt es neue und eigene Akzente, die aus der vor allem jüdischen Geschichte und Denkwelt resultieren, sich bald aber schon mit hellenistischen Vorstellungen mischen.

Die Zeit von etwa 50 vor bis 100 nach Christus war insgesamt geprägt von hohen Erwartungen und dem Bewusstsein in einer Umbruchsituation zu leben. Damit ist diese Zeit exemplarisch für andere Umbruchzeiten. Vor allem im jüdischen Kontext gab es ein hohes Maß an Messias-Erwartung. Immerhin gab es nicht nur einen Vertreter dieser Messias-Gattung während der Lebens- und unmittelbaren Nachfolgezeit Jesu. Ohne hier ein geschichtliches Bild jener Zeit entwerfen zu können, muss dennoch festgehalten werden, dass dieser Zeit ein erheblicher Erwartungsdruck inne wohnte und dass in den apokalyptischen Vorstellungen diese Erwartungshaltung ihre Konkretionen, wenn auch in verschlüsselter Form fand.

Der Kairos jener Zeit im Blick auf die Gestalt Jesu war, dass seine Botschaft sich zunächst nahtlos mit anderen Hoffnungen, vor allem auf die Befreiung Israels, verband.

Gleichzeitig ist das Ausrufen der Nähe der Gottesherrschaft (Basileiatoutheou) und das Bekennen ihrer schon aktuellen Gegenwart etwas Neues zumindest für die griechisch-hellenistische Welt. Die Erfahrung der Auferstehung Jesu gilt für die junge Christenheit als Erfahrungsbeleg für das schon angebrochene und bald schon völlig hereinbrechende Gottesreich.

Dass dieses Sprechen von der Auferstehung zentral ein Glaubenstopos war, eine Beziehungsaussage der jungen Christenheit zum Messias Jesus, wird auch daran deutlich, dass aus den frühen Zeiten keinerlei Kult um der leere Grab nachweisbar ist. Dominiert hat die Botschaft die Prophetie. Die Sprache des Christentums in seinen Anfängen ist eine Hoffnungssprache erster Ordnung. Sehr schön wird das deutlich in der Emmaus-Erzählung. Die Beiden, die da unterwegs sind, geben ihrer Verzweiflung allen Ausdruck: Es geht nicht nur um die Zukunft Israels, es geht auch um die eigene Zukunft. Was soll werden? Es kommt dann ein Dritter dazu, der zuhört, der noch einmal auffordert zu erzählen, was geschehen ist, der also in die nahe Erinnerung zwingt. Was dann geschieht, ist genau das, was eine Sprache der Hoffnung vermag: Das Geschehene wird aus dem Hoffnungsfocus, der seine Kraft aus den alten Verheißungen und Prophetien, aus den Gebeten und der Thora bezieht, neu gedeutet und erfährt eine Transformation. Hier wird deutlich, wie Auferstehung auch verstanden werden kann.

Erinnern – das ist aber nicht nur Wort. Es ist auch Handlung, und es ist die Gemeinschaft -- hier der Brotbrechenden: „Darum werden wir erst…“, allerdings vor dem Hintergrund von Erfahrung und Erinnerung, gerade auch der des vergangenen Leidens. Aus dieser Transformation resultiert, dass den beiden Verzweifelten „das Herz brannte, als er …sprach“.

Das junge Christentum ging denn auch zunächst von einer unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft des Messias und dem bevorstehenden Anbruch des Gottesreiches aus. Es war offensichtlich eine Hoffnung, die seinerzeit alle Lebenden betraf. Erst das Ausbleiben des Gottesreiches brauchte dann neue Denkformen und verlangte wiederum nach einem neuen Verstehen der Botschaft.

Wie das Christentum nach dem Erlöschen der Naherwartung die Hoffnung auf ein Gottesreich zu deuten verstand, das ist eine interpretatorische Glanzleistung. Das Gottesreich wurde zu einem – dem späten jüdischen Messianismus ähnlichen -- Moment, das zu jeder Zeit einbrechen konnte, dessen Anbruchszeit ungewiss war und blieb, und das dennoch Realität war. Und gleichzeitig, das war den heiligen Schriften zu entnehmen, konnte niemand wissen, wie das Reich Gottes aussehen würde.

Die wie auch immer geartete Erfahrung einer Auferstehung Jesu, die bleibende Wirkung dieser Botschaft, das alles führte dazu, dass die Hoffnung auf ein Gottesreich nicht verfiel. Es gab Verstehensversuche unterschiedlicher Art, auch der Sabbat wurde christlich umgedeutet, bis 321 der Imperator und Caesar Konstantin dem Sol invictus den Sonntag weihte und ihn als allgemeinen Ruhetag im Römischen Reich verordnete.

Die noch ausstehende Gottesherrschaft aber konnte so tatsächlich zu einem Ort der Sehnsucht werden, der auf die damalige Gegenwart verändernd wirkte. Dass es dabei tatsächlich um ein Hoffnungssprechen ging, zeigt sich an der paulinischen Formulierung vom „Gott der Hoffnung“. Es ist dies eine sehr doppeldeutige Formulierung, denn dieser Gott ist gleichermaßen Subjekt dieser Hoffnung (als deren Urheber und Garant) wie er auch Gegenstand und Ziel dieser Hoffnung ist.

Der Sonntag wurde mit dem Edikt Konstantins zum Festtag und zum ersten Tag einer Woche, die mit dem Sabbat endete. Zugleich war dieser Sonntag auch der uneinholbare achte Tag, der die Schöpfung um einen Tag überschritt und die Überschreitung der Weltgeschichte feierte.

Hoffnungssprechen lebt aber nicht nur vom Erinnern, es lebt auch von den Erfahrungen der zumindest beginnenden Konkretion. Im Christentum hat diese Konkretion den Namen „Nächstenliebe“. Es ist bezeichnend für die Ehrlichkeit der frühen Christengemeinden, dass dabei nicht verschwiegen wurde, wenn etwas schief lief: Korinth, wie es Paulus beschreibt, ist dafür ein gutes Beispiel. Das Abrutschen in alte magische Vorstellungswelten und das damit verbundene Wiedererstarken sozialer Gegensätze.

Und wiederum ist hier das Gegenmittel das Erinnern, die Erzählung vom sogenannten Herrenmahl, der Hinweis auf die Bedeutung der Deuteworte als Deutung von Geschichte (Leib), Gegenwart (Essen und Trinken) und Zukunft (Neues Vermächtnis, kainediatheke). Es ist zugleich eine Verflüssigung statischen Denkens (magisch) und ein Hinlenken auf das Prozessuale der „Herrenmahls“.

Obgleich die prophetisch zukunftsweise Sprengkraft des Christentums immer wieder verloren zugehen schien, gab es doch ebenso immer wieder Gegenbewegungen, oft verketzert von der Amtskirche, übrigens bis hin zur Befreiungstheologie, die den prophetisch hoffnungsvollen Anteil des Christentums ins Spiel brachten.

Gleichzeitig stieß und stößt eine solche Hoffnungstheologie auf eine Gegenwart, die zumindest in Europa befriedigte Alltagswünsche zeitigt und in der Menschen lieber Fortschritt als Hoffnung wollen. Ein warmer Winterpullover, den ich mir leisten kann, ist offensichtlich handhabbarer und wärmt zu Winterszeit auch mehr als die schönste Gottesreich-Hoffnung.

Es gibt eine offensichtliche – übrigens nicht organisierte, das ist keine Verschwörungstheorie -- Gegenbewegung zum Hoffnungssprechen und -denken: Das ist die Werbung. Sie arbeitet perfekt mit den Mitteln der Hoffnungssprache und hängt an allerlei Konsumakte reale Erlösungsversprechungen. Ähnliches gilt auch für die Finanzmärkte, die weitgehend spekulativ arbeiten und Erlösung von aller Armut und ein Maximum an Reingewinn versprechen. Spekulativ, aber hoffnungsorientiert, allerdings mit bald schon realen Ergebnissen. Das Resultat kennen wir. Nun ist das Reich Gottes und seine Ankunft vermutlich nicht viel unsicherer als der spekulativ erwirtschaftete Gewinn mancher Hedgefonds. Der Unterschied ist dennoch im wahrsten Sinn des Wortes mit Händen zu greifen: Gerade für Besitzende und Herrschende, für jene, die glauben mit Fortschritt Realität auf Zukunft trimmen zu können, ist ein potentieller Gewinn, sogar ein Verlust aus Spekulationen allemal attraktiver als das, was Christen unter Gottesherrschaft verstehen müssen, weil das derlei Fortschritt ad absurdum führt.

Angesichts vieler Hoffnungsversprechen für die Individuen hat es ein Sprechen, das globale Perspektiven als Hoffnungsperspektiven sucht, das zudem nicht einmal angeben kann, was genau da mit dieser anderen Zukunft auf uns zukommt, nicht leicht. Natürlich gibt es Menschen, die sich dem verschreiben und vermutlich gab es immer nur wenige, die das getan haben.

Vielleicht geht es auf der Suche nach eine erfahrungsgesättigten Hoffnungssprache aber gerade darum, solche Menschen, solche Bewegungen und derartige Situationen zu finden und zu benennen. Es sind dies nicht nur Geschichten des Gelingens wie etwa die Geschichte der Emanzipation der Colored People in den USA, es sind dies auch keine rückschlagsfreien Geschichten. Es sind auch Geschichten des Scheiterns. Und vor allem sind es Geschichten des Leidens, die deutlich machen, was für die Damaligen, was aber auch für die Zukunft auf dem Spiel steht, wenn derartiges Scheitern unaufgehoben bleibt. Und Aufhebung ist hier nicht einsinnig gemeint.

Im Übrigen ist es nicht so, dass christliche Denkmotive einfach demontiert werden. Das Christentum schafft sich allmählich und mit großer Sicherheit selbst ab. Es ist weitgehend zur Moral verkommen, von der niemand mehr hören mag. Natürlich ist es notwendig sich zu fragen, welche Ethik zukunftsfähig ist und wo sich Entwicklungen zeigen, die einer Zukunft Gottes entgegen stehen. Aber das geht nicht im Sinne einer schlichten Aussage mit Hinweis auf irgendwelche nicht mehr anerkannten Naturgesetze, es geht nur noch mit der prophetischen Perspektive auf eine Zukunft, die uns nicht gegeben ist, sondern uns zukommt. Und vor allem geht es vermutlich eher negativ: Es ist wohl eher zu sagen, was nicht zukunftsträchtig und hoffnungsstärkend ist.

Hoffnungssprechen spielt eine viel zu geringe Rolle im Sprechen der Verantwortlichen in Kirche und Gesellschaft. Hoffnungssprechen ist nicht Schönreden, sondern Fokusbildung für die gesellschaftliche Wahrnehmung von Zukunft, im Sinne einer Zukunftsansage, nicht wissend, das geht vor dem Hintergrund der Botschaft vom Gottesreich nicht, sondern fragend, und wirklich in Frage stellend.

Dass wir als Christen eher negativ beschreiben können, was eben nicht Reich Gottes ist, ist kein Nachteil. Es macht das Christentum zum Korrektiv einer Gesellschaft, die Fortschritt für Zukunft hält.

Problematisch wird es, wenn wir den Gott unserer Väter und Mütter nur noch als abwesenden Gott wahrnehmen. Vielleicht muss es wieder mehr darum gehen, seine Spuren in der Geschichte von Menschen zu entdecken und zu identifizieren, um zu finden „was ohne Gefundensein nicht ist“.

 

6. Zum Schluss

Was haben wir als Christen im Zusammenhang des Hoffnungsdenkens und einer Sprache der Hoffnung heute zu sagen?

Im Konjunktiv lässt sich hier manches benennen:

 Wir müssten wirklich erzählen von der Hoffnung, die in uns ist. Auch darüber braucht es Verständigung und Miteinander. Was es nicht braucht, ist ein frühes Ausscheiden möglicher Artikulationen von Hoffnung und Reich-Gottes-Gegenwart.

 Wir müssten deutlich machen, dass es mit unserer Hoffnung einen Lebensgewinn gibt und nicht ein Weniger an Lust und Leben. Wir brauchten Feiern und Lebensfeste, bei denen diese Hoffnung als großes Miteinander erfahrbar wird.

 Wir müssten Orte schaffen, an denen auch nicht christlich verortete Menschen ein Zuhause finden können und wo sie über ihre Sinnfragen sprechen können, ohne Angst zu haben vereinnahmt zu werden. Und wir müssten lernen zu sagen, dass unsere Art des Hoffnungssprechens zwar kulturell überformt, doch zugleich auch ein Geschenk an die Menschheit ist, wie andere Kulturen uns andere Geschenke machen.

 Wir müssten lehren lernen, wie Menschen erfahren können, dass auch eine Hoffnung, die nicht auf Habbares aus ist, lebenswendend wirken kann. Und wir müssten Orte haben, erfahrbare Orte, an denen das erfahrbar ist.

 Wir müssten uns einmischen in politische Diskurse, in denen nur die Gegenwart zur Debatte steht und in der die Perspektive derer die Hoffnung brauchen, zu kurz kommt. Wir dürften nicht nur an unsere Kinder denken, wenn wir Zukunft denken, sondern an die Kinder der Welt, die Hunger haben nach Brot und Bildung.

 Wir müssten den advokatorischen Charakter von Hoffnung verschärfen, indem wir uns einklinken in die Bewegungen, die Menschen Hoffnung geben wollen. Und wir müssten verzichten auf dogmatische Bewertungen von Bewegungen, die Befreiung intendieren, weil ihnen auch das „Schon Jetzt“ des Gottesreiches wichtig ist und weil sie von Menschen kommt, die unterdrückt und ausgebeutet sind.

 Wir müssten selbst nachdenken, immer wieder, was der Grund unserer Hoffnung ist. Und wir müssten uns an unserer Sprache abarbeiten, um das sagen zu können.

 Wir müssten zugeben, dass es der Gott unserer Hoffnung ist, und nicht wir selbst, von dem wir Zukunft erhoffen. Und wir müssten uns zu Herzen nehmen, was Günter Eich 1959 in seiner Büchnerpreisrede sagte:
„Von Gott kann man nicht sprechen, wenn man nicht weiß, was Sprache ist. Tut man es dennoch, verrät man seinen Namen und erniedrigt ihn zur Propagandaformel.“

Es gäbe noch viel zu sagen zum Thema Hoffnung. Es bleibt aber nutzlos, wenn wir nicht selbst Hoffende sind, es bleibt nutzlos, wenn wir nicht selbst uns der uneinholbaren und nicht herstellbaren Hoffnung auf etwas verpflichten, das wir Gottesreich nennen und zugleich wissen: Es wird in dieser Gegenwart dem Zögern eine Heimat geben.

Und wir sollten wissen und lernen – in dieser Reihenfolge – dass Hoffen und Erinnern zusammen hängen, dass ein Erinnern ohne Hoffen der Verzweiflung verfallen muss, dass ein Hoffen ohne Erinnerung dem planen Optimismus verfällt und dass eine Gegenwart, die nicht weiß von Erinnern und Hoffen leere Zeit ist, die eher dem Inferno (Dante) zugehört als dem Paradies, nach dem wir immer wieder werfen werden, mit den Steinen unserer Sehnsucht.

Auch innerhalb der Katholischen Kirche gibt es dafür Orte und Möglichkeiten. Ein Ort ist die Katholische Erwachsenenbildung. Sie steht auf der Schwelle in der offenen Kirchentür. Sie hört gerade noch, was innen gesprochen wird, sie hört mit offenen Ohren, was draußen geschieht und sie spricht von innen nach außen und dreht sich um und, und wenn es gewollt ist, kann dann innen gehört werden, was außen wahrgenommen wird.

Katholische Erwachsenenbildung, die sich dem Werden, dem Menschen und dem Lernen verpflichtet weiß, also der Menschwerdung, Katholische Erwachsenenbildung, die das Emmaus-Prinzip pflegt: Zuhören, zum Erzählen und Erinnern bringen, deutend miteinander neue Wege suchen und hoffentlich Herzen zum Brennen zu bringen, diese Katholische Erwachsenenbildung stellt auch konkrete Menschen und Räume zur Verfügung, wo all das möglich werden kann.

Und Katholische Erwachsenenbildung arbeitet selbst daran, Hoffnungssprache authentisch zu sprechen – nicht für sich selbst, sondern im Sinne derer „für die wir unsere Hoffnung hegen“.

Shalom und Christos anesti – auch das sind Urworte.