Auf der Suche nach Menschensprache

Lyrik als Ort religiösen Sprechens

EIN DRÖHNEN: es ist
die Wahrheit selbst
unter die Menschen
getreten,
mitten ins
Metapherngestöber

Paul Celan

1. Lyrik: Sprache findet zu sich

Läse der alte Martin Opitz heute das, was man so Gedichte nennt, würde er vielleicht staunen, was sich alles mit der deutschen Sprache zu anstellen lässt. Vielleicht aber würde er auch, selbstverständlich der natürlichen Silbenhebung angepasste, Blitze schleudern, auf das was sich heute alles Poesie schimpft.

Noch nie in der deutschen Lyrik gab es so viele Möglichkeiten des Schreibens wie heute. Das finden sich auf der einen Seite gebundene Texte im strengen Reim, auf der anderen Seite Gedichte, denen man kaum anmerkt, dass es welche sind, weil sie im Parlando-Ton daherkommen, fast wie Alltagssprache. Es gibt stark rhythmisierte Texte und solche, die einem inneren Assoziations- oder Konnotationszwang folgen. Und dazwischen gibt es unzählige Möglichkeiten: Binnen- und Endreim, Inversion und wechselnder Rhythmus usw.

Vermutlich werde heute mehr Gedichte geschrieben als je zu Zeiten des Barock. Wahrscheinlich werde auch mehr Gedichte gedruckt als früher. Aber ganz sicher werden weniger gelesen. Und wieviel ungedruckte Gedichte in Schublade versunken sind allein im letzten Jahr, das wir niemand je eruieren können.

Gute Zeiten für Lyrik also?

Während Autorinnen von Romanen durchaus satt und manchmal sogar reich werde können, lässt sich allein von Lyrik nicht leben. Die Auflagen von Lyrikbänden sind klein, einige ausgenommen, wie Durs Grünbein. Die Honorare sind gering oder zum Teil eher nicht vorhanden. Zwar lebt der Mensch nicht vom Brot allein, aber mit dem Schreiben von Gedichten allein, fehlt es sogar am Brot.

So viel also aus dem Nähkästchen der Schriftstellerinnen geplaudert. Und die sehr realistische Antwort mag sein, dass ja nun auch niemand Gedichte schreiben müsse, die sich dann nicht verkaufen und die anscheinend niemand lesen will.

Genau an dieser Stelle aber beginnt es spannend zu werden. Denn wer Lyrik schreibt, weiß, dass er oder sie nicht davon leben kann. Und sie tun es trotzdem, all die jungen oder älteren DichterInnen, und können nicht anders.

Verlage verlangen bisweilen von LyrikerInnen, dass sie nun endlich mal ein »richtiges« Buch schreiben sollen, bevor ein neuer Lyrikband gedruckt wird. Die wenigsten schaffen das, weil das Erzählen nicht ihr Ding ist.

Lutz Seiler beispielsweise hat das geschafft mit Zeitwaage oder dann sehr erfolgreich mit Kruso. Den meisten aber liegt das Erzählen fern, allenfalls die kleine Form gelingt. Walle Sayer nennt das dann »Prosagedichte«.

Gute Zeiten für Lyrik waren eigentlich immer schlechte Zeiten. Wenn Menschen zu Gedichten greifen, dann, weil sie nach Sprache suchen, die ihnen verloren gegangen ist – oft jedenfalls. Früher griff man so nach Psalmen oder Gebeten.

Warum also schreiben sie nur alle Gedichte? Warum ist Lyrik nicht tot zu kriegen?

Längst sind Gedichte, wie zu Opitz‘ Zeiten kein gesellschaftlicher Zeitvertreib und vor allem keine gesellschaftliche Notwendigkeit mehr. Widmungsgedichte zum Tod und zur Hochzeit, zur Taufe oder anderen wichtigen Lebensabschnittsanfängen oder gar Preisgedichte auf die Mächtigen sind weder notwendig noch gefragt, auch wenn bisweilen Reimzeug abgesondert wird zu solchen Gelegenheiten.

Warum also gibt es Gedichte immer noch, obwohl sie ökonomisch eine Katastrophe sind?

Glücklicherweise lässt sich Sprache kapitalistisch und staatlich nicht zähmen. Sprache ist eine Sache aller Sprechenden, die ihr ihre Geschichte mitgeben, und im Verlauf wandelt sie sich und nimmt diese Geschichten in Form von grammatischen Strukturen, Wortentwicklungen oder -veränderungen auf, sie lauscht auf das, was anderswo gesagt wird und fügt sich ein, was ihr passt, Fremdwörter nennt man das oder Denglisch. Es wird aber angeeignet auf Dauer oder wieder ausgeschieden. Die meisten Modewörter, die vor 10 oder gar 20 Jahren von Werbeleuten oder in Trainings über den Markt getrieben wurden, sind längst wieder vergessen.

Es gibt offensichtlich Menschen, die sprachsensibel sind, das mag eine Art Krankheit sein, wie Allergie oder Asthma, aber es ist meist nicht heilbar. Offensichtlich müssen sich manche Menschen an der Sprache abarbeiten, sie immer wieder befragen, in ihr Dinge entdecken, die bisher unentdeckt waren, sie auf ihre impliziten Botschaften überprüfen und sich damit anlegen…

Wenn ein Wort, ein Satz gesagt wird, dann beginnen bei diesen Menschen die für Sprache zuständigen Synapsen zu klappern und produzieren Assoziationen, spielerische Veränderungen und manchmal auch dummes Zeug. Gedichte entstehen aus Sprache, nicht aus Gefühl.

Auch wenn es merkwürdig klingen mag, Gedichte sind Spiele mit der Sprache. Spiele können durchaus sehr ernsthaft sein. Aber selbst ernsthafte Dichterinnen und Dichter lassen sich bisweilen vom Spieltrieb überwältigen. Selbst ein Dichter wie Paul Celan schrieb einen Text mit dem schönen Titel »Großes GeburtstagsBlauBlau mit Reimzeug und Assonanz«. Und hinter den anscheinend spielerischen Texten von Gernhardt oder gar Jandl stecken meist kluge und/oder bittere Einsichten.

Es geht dabei um Sprache. Um sonst nichts. Mehrere deutsche GegenwartsdichterInnen haben mir erzählt, sie sprächen am liebsten in ihren Gedichten, ohne etwas sagen zu müssen. Aber das gehe nun leider nicht, da Sprache immer etwas sagen müsse. Und das ist gut so. Denn im dichterischen Spiel zeigt Sprache manchmal etwas, was sie nicht sagen kann, was aber doch erscheinen will: »Es gibt auch das Unaussprechliche. Das zeigt sich.« (Wittgenstein) Das bekannte Domin-Gedicht vom »Nichtwort, ausgespannt zwischen Wort und Wort« macht genau das auch deutlich.

In Gedichten darf Sprache das sein, was sie am liebsten ist und wofür sie einst erfunden wurde: Gespräch. Wer verkündet oder verkündigt, wer predigt oder Vorträge hält, will immer »etwas« sagen. Das geht mit Sprache nur sehr bedingt. Nach kommunikationswissenschaftlichen Untersuchungen kommen etwa 12 Prozent von dem, was inhaltlich gesagt wurde, bei den Hörenden an. Deswegen braucht es redundante Wiederholungen. Und auch die helfen schließlich nicht weiter. Wenn sich Menschen nach sechs Wochen noch daran erinnern, dass etwas eine »schöne« oder «aufrüttelnde« Predigt war oder ein exzellenter Vortrag, dann ist das viel. Über Inhalte werden sie dann nur wenig sagen können. (Es sei denn, sie haben sich Notizen gemacht.[1])

Sprache ist Gespräch. Und das Gedicht als eine »Erscheinungsform der Sprache« (Celan) ist ebenfalls Gespräch, Selbstgespräch manchmal, meist aber Gespräch mit jemandem oder mit etwas. Und in Gesprächen ist nachweislich der Redefluss entscheidend, nicht der Inhalt. Den braucht es, damit es etwas zu reden gibt. Bei vielen Gesprächen ist es gleichgültig, ob über die Krankheit von Tante Käthe, das Wetter von Gestern oder Morgen oder einen eben gehörten Vortrag gesprochen wird. Hauptsache, es wird gesprochen.

Allerdings ist das Gedicht eben auch – in der Gegenwart jedenfalls – Nachdenken über das, was da zur Sprache kommt und was die Sprache im Sprechen anstellt. Das unterscheidet das Gedicht vom Alltagsgespräch. Die Sprache der Gedichte bewegt sich deswegen meist auf mehreren Ebenen: Da ist einmal die Ebene des Etwas, des Inhalts, ohne die nicht zu sprechen ist. Da ist zweitens die Ebene des Dass, des Klangs, der Musik, des Rhythmus‘, jene Ebene also, auf der Sprache, wenn es gut geht, zu sich selber kommt. Und schließlich gibt es eine dritte Ebene, die Ebene der Reflexion, die sich wieder ins Sprechen einschleusen muss, wenn sie nicht verloren gehen will: Was jemand bloß gedacht hat beim Schreiben, das ist verloren.

Schließlich aber sind Gedichte immer unterwegs auf ein Du hin, auf jemanden zu, der oder die sie hört, liest und sich ihnen dabei zuwendet. Und Zuwendung bedeutet hier, sich einzulassen auf Worte, Spiel und Reflexion.

Gleichzeitig gilt es festzuhalten, dass nicht jedes Gedicht, das sich als solches zu erkennen gibt, auch ein gelungenes Gedicht ist. Manche Dichterinnen und Dichter hoffen denn auch, dass wenigstens einer ihrer vielen Texte im Gedichtsinn gelungen sei.


2. Lyrik und Religion

Die für unsere Gesellschaften relevanten Religionen, also die abrahamitischen, bestehen vor allem aus Wörtern. Starke kultische Elemente, die aber neben reduzierten Handlungen ebenfalls vornehmlich aus Wörtern bestehen, gibt es vor allem noch in der Orthodoxie und im Katholizismus. Das Judentum kennt seit dem Ende Zweiten Tempels keinen Kult mehr. Und auch die Kirchen protestantischer Provenienz verzichten weitgehend darauf. Allenfalls in den lutherischen Kirchen gibt es Ähnliches wie im Katholizismus. Auch die Rituale angesichts der verschiedenen Lebensübergänge sind eher reduziert vorhanden.

Auch im Islam gibt keinen Kult. Das »Opferfest« ist eher ein Familienfest, bei dem der Umwidmung des Abrahamsopfers gedacht und den Armen und Bedürftigen vom geschlachteten Widder abgegeben wird.

Ansonsten gibt es, wie gesagt, Worte, unendlich viele Worte in Bibel und Koran, in einer Unzahl von Gebeten, Liedern, Litaneien, in Predigten und Ansprachen usw. Und in den westlichen Kirchen gibt es Musik und Choral, die offensichtlich so etwas wie eine Sublimierung des Kultes sind.

Viele dieser religionsspezifischen Texte haben künstlerische Qualität. Sie sind bewusst gestaltet, keineswegs Alltagssprache. Und auch die Predigten folgten meist den antiken Gesetzen der Rhetorik, waren also alles andere als gewöhnliche Sprache. Gleiches gilt auch für den Koran und die ihm zugeordneten Interpretationen und im Prosabereich für die Hadithe, die Berichte über die Handlungen des Propheten, die ebenfalls einer festen Form folgen.

Für die meisten Menschen in Europa dürften Gebete, Lieder und Predigten über Jahrhunderte die einzige Form künstlicher, zum Teil gebundener Sprache gewesen sein, der sie in ihrem Leben begegnet sind. Parallel zu den kirchlichen Liedern entwickelten sich auch im weltlichen Bereich sog. Volkslieder. Und die Melodien konnten zwischen beiden Bereichen munter hin und her schwingen.[2]

Das Spielen mit der Sprache hat sich noch nie verbieten lassen und es lässt sich selbst bei Androhung von Höchststrafen nicht wirklich kanalisieren. So entstanden immer schon Spott- und Preisgedichte, Loblieder auf die Jahreszeiten oder Märchen als verschlüsselte Aussagen der eigenen Befindlichkeit, über die zu reflektieren noch nicht erfunden war.

Worte zeugen Worte und feierliche Worte zeugen feierliche Worte, manchmal bis ins Satirische verzerrt. So bleibt es nicht aus, dass Wörter aus der religiösen Sprache sich auch in die Alltagssprache einschleichen und vor allem in die gebundene Sprache der Dichtung, gleichgültig ob es sich dabei um Volksdichtung oder Kunstdichtung handelt.

Noch in den Anfängen unserer Literatur und Dichtung, in der Zeit des Barock etwa, konnten die Dichterinnen und Dichter nahtlos von weltlichem Dichten auf geistliches Dichten umsteigen. Selbst für Klopstock war das noch kein Problem. Die Weimarer Klassik hat hier eine Zäsur gesetzt. Goethe, Schiller und selbst der Pfarrer Herder haben sich schwer getan mit religiösem Vokabular. Sie wie auch später Hölderlin und dessen Generation wanderten stattdessen aus zu den Göttern Griechenlands oder Roms.

Was die Aufnahme vor allem christlich religiöser Motive und Wörter angeht, so schließt an die Zeit des Sturm und Drang eher die Zeit der Romantik an, die ihre Dichtung wieder mit religiösen Wörtern ausstattete. Allerdings längst nicht mehr im alten Kirchenliederton: Das bekannte »Gebet« von Eduard Mörike ist dafür Beleg:

Gebet

Herr, schicke, was du willt,
Ein Freudes oder Leides
Ich bin vergnügt, dass Beides
aus deinen Händen quillt.

In etwas altertümelndem Ton mag dieser 1832 erschienene Text tatsächlich fast noch als Gebet durchgehen. Immerhin ist es sehr großzügig, alles was kommt als aus Gottes Händen quellend anzunehmen. Nur das »willt« und das »Freudes oder Leides« ist Kunst und man merkt, dass es hier um Rückverweis auf Älteres und um Reim geht.

16 Jahre später erscheint das Gedicht erneut. Diesmal ist es ergänzt um eine augenzwinkernde Einschränkung:

Wollest mit Freuden
Und wollest mit Leiden
Mich nicht überschütten!
Doch in der Mitten
Liegt holdes Bescheiden.

Was sich mit 28 Jahren so sagen ließ, das war mit 44 Jahren eben nicht mehr so einfach zu sagen. Und so streicht die zweite Strophe die erste durch – nicht nur durch das, was sie sagt, sondern auch durch den nun Litanei-artigen Tonfall.

So ging es mit der Dichtung weiter. Selbstverständlich hatte religiöse Sprache dort ihren Ort. Umgekehrt war das weniger der Fall: Religiöse neue Texte orientierten sich eher an religiösen alten Texten. Das führt sich zum Teil bis in die Gegenwart fort.

Schon die Katastrophe des ersten großen Krieges in Europa (1914 bis 1918) hat ihre Spuren in der Dichtung hinterlassen. Vor allem aber die Zeit des Nationalsozialismus stellt für die Dichtung eine unüberwindbare Zäsur dar.

Wie kaum je eine Ideologie, also eine totalitäre Weltanschauung, zuvor nutzte der Nationalsozialismus religiöse, genauer christlich religiöse Wörter, Floskeln und Motive, um seinen Einfluss auf die Menschen zu erhöhen und zu verstetigen. Das ging von der angeblichen Auserwählung des deutschen Volkes über den Führerkult und die durch den »Führer« vertretene Vorsehung bis hin zu den unter dem Motto »Arbeit macht frei« - ein Satz, der so auch aus dem Calvinismus kommen könnte oder aus einer aufgeklärten Nationalökonomie[3] - industriell durchgeführten Ermordung von Juden in Millionenzahl und von anderem angeblich »lebensunwertem« Leben.

Vor allem für jüdische Menschen deutscher Sprache war solches Reden, das sich als Verheißungsrede tarnte und auf das allzu viele Menschen sich eingelassen haben oder hereingefallen sind, ein Grund nach dem Krieg, so sie denn überlebt hatten, diese Sprache nicht mehr zu sprechen. Und diejenigen, die es dennoch taten, kamen um eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den Wörtern und Strukturen dieser Sprache nicht herum.

Aber auch vielen anderen wurde nach dem Krieg klar, dass der geradezu als Erlösungswerk bejubelte Krieg nichts als Teufelszeug war, dass er eben nicht Leben und Zukunft brachte, sondern Tod, Zerstörung und Vernichtung war. Spätestens damit hatte die Sprache, in der all das angekündigt und gesagt worden war, ihre Unschuld verloren.

Es gab nach dem Krieg, nach der Shoah Dichterinnen und Dichter, die versucht haben, mit dieser Sprache umzugehen, sie zu befragen und zu reinigen. Es geschah die auf lakonische oder emphatische, auf klagende und zürnende Weise. Und tatsächlich verschwanden viele der belasteten und missbrauchten Wörter aus der Alltagsprache: »Vorsehung« und »völkisch«, »Reich« und »Heil«, aber auch Bürokratenworte wie »darüber hinaus« etc. Heimat gab es allenfalls noch bei den »Heimatvertriebenen« und deren Treibe wurde von vielen mit äußerstem Argwohn beobachtet.

Dichterinnen und Dichter, die zu diesen Sprachkritikern mit dem Mittel der Sprache gehörten: Paul Celan, Nelly Sachs, Hilde Domin, Günter Kunert, Erich Fried – um nur ein paar zu nennen. Oft genug suchten sie bei all ihrem Mühen um die Sprache Anschluss auch an früheres Sprechen, ans Mittelhochdeutsche, an religiöse Texte aus früheren Zeiten, soweit sie nicht korrumpiert waren durch die »tausend Finsternisse todbringender Rede«. Die meisten dieser Dichterinnen und Dichter, alle oben genannten, waren jüdischer Herkunft.

Nur in den Kirchen gab es eine derartige Sprachkritik nicht. Man sang die gleichen Lieder wie vor und im Krieg, man betete weitgehend die gleichen Gebete und nutzte die gleichen Worte. Als seien die Kirchen aus der Zeit gefallen und hätten mit all dem irdischen Geschehen, in das sie zum Teil jedoch tief involviert waren, nichts zu tun.

Christian Lehnert, selbst evangelischer Theologe, macht darauf aufmerksam, im Jahre 2004:

Jetzt lass mich reden: Unser Heil
ist längst ein Wort nur, alt wie Krätze,
Wir bieten Judenasche feil;
wir verbrennen Kirchenschätze,

wir sind zerlegt in viele Stücke,
die alle behaupten, sie hätten Gewicht;
Trost wie Auswurf, noch die Krücke
des Glaubens, erträglicher Satzbau zerbricht

Tatsächlich wird das Wort »Heil« weiter munter gesungen und gebetet und bisweilen kommt es sogar in Predigten vor. Als habe es nie Heil schreiende Massen gegeben, die für andere wie für sich den Weg in den Untergang planiert haben, als seien nie im Zeichen des Heils Millionen von Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, Menschen mit Behinderungen usw. ermordet, verbrannt und verscharrt worden.

Und die Begründung dafür? Wir können doch solch wichtige Worte nicht verloren geben! Und was früher richtig war, kann jetzt nicht falsch sein! usw. Alles immer mit Rufzeichen versehen.

Aber es ist kein Heil mehr zu finden in dieser Sprache, in der zu oft und zu laut Heil gebrüllt wurde. Und wo es vorkommt, evoziert es jene schreienden Massen und nicht, was es vielleicht einmal bedeuten wollte.

Dabei stand einmal durchaus die Frage im Raum, ob man nach Auschwitz überhaupt noch beten dürfe/könne. Baptist Metz hat als Antwort darauf gegeben: Ja, aber nur weil Menschen auch in Auschwitz gebetet haben. Nur so einfach ist es wohl nicht: Es stimmt ja, dass Menschen in Auschwitz und anderen Lagern gebetet haben. Es war jenes psalmische Sprechen, das immer auch den Schrei der Verzweiflung umfasst. Nur warum sollte dieses Beten aus Verzweiflung und mit einer vielleicht gerade noch zitternden Hoffnung den Nachgeborenen die Erlaubnis zu beten geben? Oder gar den Zeitgenossen des Unheils? Es sei denn sie beteten nur noch mit der Stimme und im Namen derer, die da geschrien und gebetet haben oder verstummt sind, die verloren und untergegangen sind… Nur wo und in welcher Kirche wird so gebetet?

Das ist nur ein Beispiel. Und gegen derlei wehren sich bis heute Dichterinnen und Dichter, indem sie blasphemisch werden oder satirisch, indem sie Wörter zerbrechen oder zu stottern beginnen.

Religiöse Sprache in der Gegenwartsdichtung: Ja, die gibt es durchaus, gebrochen, vorsichtig, fragend und immer wieder auch, Anlässe gibt es genügend, ironisch, satirisch, klagend oder abweisend.

Das kleine Celan-Gedicht als am Anfang dieses Versuches steht, macht vielleicht am ehesten deutlich, auf welche Weise heute, auch nach den Zeiten sog. hermetischer Dichtung, Religion ins Gedicht findet:

Dröhnen ist artikulationslos. Dröhnen ist einfach nur laut. Dröhnen versteht kein Mensch inhaltlich. Wenn Wahrheit als Dröhnen auftaucht, gar »die« Wahrheit, dann muss sie unverständlich bleiben und sie übertönt auch alles Sprechen und die feinste Artikulation noch. Dröhnen ist das Unaussprechliche, das sich hier nicht dem Auge, sondern dem Ohr zeigt.

So geht es mit der Wahrheit und den Menschen, die sich mit ihrer Sprache über Wahrheit verständigen zu können glauben.

Was Metapherngestöber ist? Eine Sprache, die tatsächlich noch glaubt, das ganz Andere ließe sich in irgendwelchen Bildern einfangen und dann »habe« man endlich die Wahrheit. Metapherngestöber: Das ist jene Sprache, die mit schönen Bildern und markigen Worten Vernichtung, Mord und Untergang verbarg und zugleich verkündete. Das ist eine Sprache, die bis heute immer noch in den Kirchen und neuerdings wieder in der Politik gesprochen wird, damit es dem deutschen Volk endlich wieder gut gehe und das Heil der Seelen gewährleistet sei. Wirklich, wir brauchen dieses Dröhnen.


3. Zum Schluss: »was ohne Gefundensein nicht ist«
    Ein Beispiel

Wann?

Wenn es den Einen gibt,

der hineinschlüpft in die Stimme

und miterwacht im Auge,

mithört, und der ja sagt,

hören wir es, sehen wir es,

wenn er dabei ist

bis in die Knochen,

mitsterbend, mildernd den Tod,

ein sicheres Dasein

wäre die Liebe,

zwei gegen einen.

Schlügen die Sätze Funken,

erleuchteter, wäre die Erfahrung

ruhiger, das Beweisen sich selbst klar?

Das Zögern ginge beschützt vom Weg

dem Ende zu, zu finden,

was ohne Gefundensein nicht ist.

                                                     Alfred Kolleritsch

Das »Wann« ist die wohl christlichste aller Fragen. Auch wenn wir daran selten denken: Was Christen hoffen, erledigt sich nicht am nächsten Morgen und ebenso wenig am St. Nimmerleinstag. Es muss, wie die Erscheinung Jesu ein Datum der Geschichte, der Zeit sein.

Dieses Wann stellt sich kirchlich eigentlich nie. Allenfalls in der Adventszeit. Und dann ist die Antwort eben »Weihnachten«… Zukunft in der Vergangenheit ist ungefährlich.

Also wandert die Frage in die Dichtung aus, weil sie einfach nicht verstummen kann. Und dort knüpft sie sich an eine Bedingung: »Wenn es den Einen gibt«. Der Eine ist großgeschrieben. Damit ist es nicht irgendeiner, von dem gesprochen wird; und an dessen Dasein alles hängt, auch die Wann-Frage.

»Wenn es den Einen gibt«: Das ist konditional, notwendige Bedingung, nicht Konjunktiv oder Optativ, nicht frommer Wunsch also oder pure Möglichkeit. Was also dann, wenn diese Bedingung zutrifft? Was heißt da überhaupt »geben«. »Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.« Ein bekannter Satz von Dietrich Bonhoeffer – weil Gott, dem Sein zugesprochen würde, nicht Schöpfer allen Seins, also nicht Gott wäre, sondern Geschöpf.

Deswegen muss das Gedicht sich mit dem »gibt« beschäftigen und dessen Geschichte erzählen. Das »Es gibt« wird als Prozess des Mitseins beschrieben: Als Mitsein im Sprechen – dessen muss ein Gedicht sicher sein – und in der Wahrnehmung (Auge, Hören). Und Einer, der zum Du wird, zum Gegenüber innen, zum Anderen in mir. Und der als Anderer »ja« sagt.

Da hat das Gedicht selbst einen inneren Dialog angefangen, als Selbstbefragung. Dieses »hören wir es, sehen wir es« - das ist keine Frage und fragt doch. Das ist wie in Parenthese gesprochen, also in Gedankenstrichen, die aber hier Kommata sind. Kommata sind Einschnitte, unterbrechen also, was zu lesen wäre.

Dennoch scheint es nahtlos weiterzugehen, weiter im Konditonalis: »wenn er dabei ist«.

Das ist das Mitsein, um das es geht. Ein Mitsein, das wie in der Mystik zugleich ein Inne-Sein ist. Es geht um eine Art des Menschseins. Offensichtlich ist davon die Rede. Aber was spricht und wer spricht da eigentlich. Es ist die Sprache selbst, die von Auge und Ohr, von Auge und Stimme zu Knochen Sterben und Tod gelangt. Das ist es, was wahrgenommen wird.

Das Dabeisein eines Einen, also eines ganz Anderen (ein Wort von Rudolf Otto) gerät dann doch in den Konjunktiv, vielleicht in den Optativ in seiner Bedeutung für die, die davon wissen können:

Oder ist das Hören und Sehen doch eine Frage?

Auch wenn zwei beieinander liegen, wärmen sie sich; wie kann ein einzelner warm werden? Einer mag überwältigt werden, aber zwei mögen widerstehen; und eine dreifältige Schnur reißt nicht leicht entzwei. Koh 4,11-12

Plötzlich taucht als Widerpart des Todes die Liebe auf, weil ja zwei da sind, zwei nahe, gar nächste ineinander verschlungene wir und du… Eine Erinnerung wird wach an ein altes Wort. Auch dass die Liebe nicht nur stark, sondern stärker ist als der Tod »ein sicheres Dasein«. »Zwei gegen einen«.

Das alles ist ganz sprachlich gedacht: Was wäre wenn. Das »wenn« hat ein »ist« im Gefolge, das »ist« einen Konjunktiv – oder einen Optativ: Möglichkeitsform oder Wunschform – im Deutschen ist das nicht so recht zu unterscheiden.

Und auch weiter geht es um Sprache und deren Wahrnehmungs- und Erkenntnischarakter:

Schlügen die Sätze Funken,

erleuchteter, wäre die Erfahrung

ruhiger, das Beweisen sich selbst klar?

Das »Wir» ist plötzlich außen vor – es geht um Sätze, um Beweisen, um Erfahrung. Sätze sagen etwas. Hoffentlich. Aber was? Scheint das, was sie sagen durch auf das, was ist? Gäbe es also, wenn nur der Tod nicht wäre…, nein darum geht es längst nicht mehr sondern um ein Du, das anwesend ist in der Sprache. Gäbe es also mit einem solchen ganz Anderen Du Erleuchtung? Ein inzwischen vernutztes Wort. Erleuchtung nicht für ein Wir, ein Du, sondern für die Sätze.

Erfahrung, das ist interpretiertes Erleben, das könnte durchaus Erleuchtung gebrauchen, weil Interpretation Sätze braucht, um zu existieren. Was ist eine nur ruhige Erfahrung? Eine die nicht mehr fragen will? Eine, die nicht mehr von Kontingenzen gequält wird? Von »handlungssinntranszenden ten Kontingenzen« (Lübbe)?

Celan hat in seiner Büchnerpreisrede (1960) darauf hingewiesen, dass das Gedicht immer in eines anderen Sache spreche, vielleicht sogar in eines ganz Anderen Sache. Aber geht es dabei um Sicherheit?

Sicherheit, das ist zu einem Fetischwort geworden. Ein Beweisen, das sich selbst klar würde, wäre eine Katstrophe für jede Form von Kommunikation. Also kann es einem Gedicht, das doch Gespräch sein will, darum kaum gehen.

Das Gedicht fügt all dem ein neues Wort zu, das Wort »Zögern«. Zögern ist mit Ziehen verwandt, die starke Imperfektform »zogen« zeigt etwas davon. Es meint ein Bremsen des Gezogenwerdens. Und gezogen wird das Wir ja unaufhaltsam in Richtung Knochen, Sterben Tod. Das Zögern, das ist hier auch das Innehalten, das nachdenklich Werden, das Innewerden dessen, was mit Tod und Knochen bevorsteht. Wenn es aber nun so ein Mitsein gibt. Was wäre dann? Wäre die Welt verändert? Wäre das Wann, diese große Frage, endlich geklärt?

Sprachlich geht das nicht. Im Gedicht auch nicht, weil es eben Sprache ist und nicht Verheißung, sondern Frage bleibt.

Aber das Gedicht macht, diesmal als reine Möglichkeitsform eine Aussage:

Das Zögern ginge beschützt vom Weg

dem Ende zu, zu finden,
was ohne Gefundensein nicht ist.

Das Ende bleibt dem Menschen, dem Wir nicht erspart. Trotz eines möglichen Du, das anwesend und inwesend ist. Trotz eines Einen.

So wird das Wir, so wird das gehen selbst als Zögern beschrieben. Kein Wir mehr. Aber dass der Weg dieses immer wieder gebrochene Gezogenwerden, also das Zögern schützt? Das geht nur in der Sprache. Und das Ende ist dennoch auf jedem Weg nicht Ziel, aber doch notwendig.

Was ist aber am Ende zu finden? Und was ist nicht ohne Gefundensein? Das Wann?

Ein Gedicht ist kein Kreuzworträtsel. Ließe es sich aufschlüsseln bis zum Ende, wäre die Frage zu stellen, warum ein Dichter, eine Dichterin es nicht anders gesagt hätte, dass es eben gleich verständlich wäre.

Die Frage, was ein Dichter uns damit sagen wolle, ist die unsinnigste Frage, die man an ein Gedicht stellen kann. Denn der Dichter will sprechen und nichts sagen.

Und so werden wir im Gespräch dieses Gedichts involviert in ein Geschehen, auf das das Gedicht nur eine Möglichkeit als Antwort weiß.

Dieses Gedicht ist wie alle Gedichte ein versuchter Wurf nach dem verlorenen Paradies. Ein Paradies aber, das in der Zukunft liegt.

Und das Wann findet keine Antwort. Aber es bleibt wach als Frage.


4. Und nun?

Ein Fragezeichen sollte sich nicht in ein Rufzeichen verlieben.

Aber es ist nun leider die Literatur verliebt in die Sprache der Religion und die religiöse Sprache fühlt sich in der Literatur recht wohl. Sie tankt dort Geist auf, vielleicht sogar Heiligen Geist.

Wenn nun die Sprecherinnen und Sprecher religiöser Sprache anfingen zu glauben?

Dann würde religiöse Sprache vielleicht wieder zu einem Gespräch zwischen dem Einen und dem Wir, von dem Dichtung nur sprechen kann, das sie selbst aber nicht sein kann.

Wenn es den Gott, den es gibt nicht gibt, dann sollten wir auf die Suche gehen, sinnvollerweise bei den Menschen. Die sind sein Bild und das heißt seine Repräsentation.

Vielleicht wächst dann sogar eine neue Sprache aus der Religion, nein, aus dem Glauben in die Literatur.

Navid Kermani wäre begeistert. Hafis, Mevlana Dschellaladin, Meister Eckhard, Jakob Böhme, Angelus Silesius – die haben das geschafft und die Sprache und die Menschen damit reich gemacht.

Christian Lehnert und Hilde Domin, Doris Runge und sogar der arme Paul Celan hben ähnliches geschafft.

Jetzt wäre es an der Zeit zu suchen und zu finden, was ohne Gefundensein nicht ist.

Wann? Das Reich Gottes ist immer jetzt.


[1] Die Möglichkeit, sich Notizen zu machen, wenigstens einen Satz oder ein Wort aufzuschreiben, sollte eigentlich bei Predigten gegeben sein. Vielleicht legen wir demnächst Papier und Bleistifte aus?

[2] So war beispielsweise die Melodie von »oh Haupt voll Blut und Wunden« ursprünglich ein Liebesleid- und Tanzlied im 6/8-Takt (»Mein Lieb ist mir verloren«)

[3] Heinrich Beta (ca. 1845):» Nicht der Glaube macht selig, nicht der Glaube an egoistische Pfaffen- und Adelzwecke, sondern die Arbeit macht selig, denn die Arbeit macht frei. Das ist nicht protestantisch oder katholisch, oder deutsch- oder christkatholisch, nicht liberal oder servil, das ist das allgemein menschliche Gesetz und die Grundbedingung alles Lebens und Strebens, alles Glückes und aller Seligkeit.«